Pia blickte betroffen drein.
»Das wollte ich nicht. Ich habe nicht nachgedacht, und ich würde niemals weglaufen. So gut wie hier kann es mir überhaupt nicht gehen, und manchmal …, da muss ich mich in den Arm kneifen, um mich davon zu überzeugen, dass ich nicht träume.«
Sie blickte Roberta an.
»Warum tun Sie das für mich? Ich bin eine Fremde, noch dazu eine von der Straße, die packt man normalerweise nicht einmal mit der Feuerzange an.«
Roberta ging darauf nicht ein.
»Für mich bist du ein ganz liebenswerter Mensch, der es verdient hat, dass ihm geholfen wird. Pia, jetzt habe ich leider keine Zeit für ein ausführliches Gespräch, und das müssen wir führen. Aber eines kann ich dir versichern, ich bin froh, dass du da bist. Du bereicherst mein Leben, vor allem das von Alma.«
Nach diesen Worten ging sie, weil sie schon spät dran war und es nicht zu ihren Gepflogenheiten gehörte, ihre Patienten warten zu lassen.
Alma und Pia waren allein. Das sie etwas miteinander verband, war spürbar, und als Alma leise sagte: »Ich habe mir ja solche Sorgen gemacht«, begann Pia zu weinen. Nicht, weil sie jetzt ein schlechtes Gewissen hatte. Sie hatte sich nichts dabei gedacht. Nein, sie weinte, weil sie es nicht kannte, dass jemand sich Sorgen um sie machte. Ihr Vater hatte nur an sich gedacht, und wenn etwas nicht nach seinem Kopf gegangen war, hatte er angefangen zu prügeln. Und ihre Mutter. Die war einsam und kraftlos gewesen, hatte sich längst aufgegeben. Es war umgekehrt gewesen, sie hatte sich immerzu Sorgen um ihre Mutter gemacht, und das, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war, in einem Alter, in dem man normalerweise mit Puppen spielte.
Alma sprang auf, nahm Pia in ihre Arme, drückte sie liebevoll an sich, und so standen sie eine ganze Weile zusammen und fühlten einander sehr nahe, und Pia genoss das Gefühl, beschützt und geliebt zu werden.
Pia war wieder da: …
Das war der Gedanke, der Alma beherrschte, gepaart mit einem ganz großen Gefühl von Liebe für dieses Mädchen, das behutsam mit allem vertraut gemacht werden musste, was für andere Jugendliche dieses Alters selbstverständlich war.
Sie würde Pia all die Liebe geben, die sie aufbringen konnte, dachte Alma in diesem Augenblick. Alma war ein gläubiger Mensch, auch wenn sie manchmal an Gott gezweifelt hatte. Sie war fest davon überzeugt, dass Pia auf ihren Weg kommen musste, weswegen, das würde sich zeigen.
Pia lehnte sich vertrauensvoll an Alma, genoss deren Wärme und Nähe, und irgendwann erkundigte sie sich mit kaum hörbarer Stimme: »Bist du ein Engel?«
Und diese Frage brachte Alma zum Weinen …
*
Claire hatte sich endlich einmal wieder die Zeit genommen, die Marathonstrecke zu laufen, die Achim ihr gezeigt hatte. Wenn sie ganz ehrlich war, hatte sie gehofft, ihn vielleicht zu treffen und ein wenig mit ihm zu plaudern. Sie war sich noch immer sicher, mit ihm derzeit keine Beziehung eingehen zu wollen, aber als Freund hätte sie ihn gern in ihrem Leben. Sie vermisste die Gespräche mit ihm, aber auch die gemeinsamen Aktivitäten, und es war schön gewesen, ihn beim Lauf neben sich zu spüren. So eine Strecke konnte sehr lang sein, wenn man sie allein lief.
Sie hatte ihn nicht getroffen, und da machte sie sich bewusst, dass es Dinge gab, die nicht zu ändern waren. Wer weiß, wofür es gut gewesen war. Achim hatte sich mehr versprochen, und sie bedauerte ein wenig, dass sie nicht so fühlte wie er.
Sie hatte zwar eine Garage, doch meistens war sie zu faul, den Wagen da rein zu fahren. Es war bequemer, ihn auf der Straße stehen zu lassen. Außerdem wollte sie kurz bei Hulda vorbeischauen, um sie wenigstens zu begrüßen. Sorgen machen musste sie sich um die alte Dame nicht mehr, denn Hulda hatte tatsächlich Anschluss gefunden. Aus der Zufallsbekanntschaft mit den drei Herrschaften hatte sich mehr entwickelt. Sie besuchten gemeinsam nicht nur die Theatergruppe und den Kurs in italienischer Sprache, sondern sie besuchten sich gegenseitig. Das machte Claire richtig glücklich, die alte Dame war aus ihrer Lethargie erwacht und so richtig aufgeblüht.
Wenn es immer so einfach wäre, würde sie viele alte einsame Menschen bei der Hand nehmen und sie mit Gleichgesinnten zusammenführen.
Claire wollte gerade klingeln, als die Haustür geöffnet wurde.
Achim Hellenbrink kam aus der Wohnung. Mit dem hätte sie jetzt hier nicht gerechnet. Aber warum eigentlich nicht? Hulda war seine Ex-Schwiegermutter, sie verstanden sich, und Achim hatte ihr die Wohnung gegeben.
Für einen Moment standen sie sich gegenüber, leichte Verlegenheit machte sich zwischen ihnen breit, sie schauten sich an. Achim fasste sich zuerst.
»Hallo, Claire.«
Auch wenn es ein wenig einfallslos war, entgegnete sie: »Hallo, Achim.«
Zum Glück machte sich nicht wieder Schweigen breit, er sah ihre Sportkleidung und erkundigte sich: »Warst du laufen?« Sie nickte.
»Es wurde wieder mal Zeit, ich war faul, dabei weiß ich, dass man den Kopf freibekommt, wenn man sich endlich aufgerafft hat.«
Sie hätte gern hinzugefügt, dass es mit ihm an ihrer Seite schöner gewesen wäre, eine innere Scheu hielt sie davon zurück.
»Hulda hat mir von dem Geld erzählt, das du bekommen hast. Und, weißt du schon, was du damit anfangen wirst. Oder ist es schon ausgegeben?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich denke beinahe pausenlos darüber nach, und immer, wenn mir etwas in den Sinn kommt, verwerfe ich es wieder. Es wäre einfacher, wenn es mein Geld wäre.«
»Aber es ist dein Geld, du hast es bekommen, weil du ein Leben gerettet hast.«
»Tut mir leid, Achim, aber so sehe ich das nicht. Ich habe meine Pflicht getan, und dafür wird man nicht mit einem solchen hohen Geldbetrag belohnt. Schon vergessen, dass ich Ärztin bin?«
Er blickte sie an, und in seinem Blick lag so unendlich viel Liebe, dass Claire zur Seite sehen musste.
»Irrtum, du warst in diesem Augenblick eine Marathonläuferin, die unbedingt ihr Ziel erreichen wollte und das mit einem guten Ergebnis. Wären deine Sinne nicht so geschärft gewesen, wärst du weitergelaufen, und die arme Frau wäre gestorben, wie es sich dieser grässliche Ehemann ausgedacht hatte. Du hast einer sehr reichen Frau das Leben gerettet, noch einmal, ohne dich wäre sie tot. Und ich weiß nicht, ob man für ein Leben überhaupt einen Preis ansetzen kann. Es ist unbezahlbar. Claire, mach dir keine Gedanken, dir wird schon etwas einfallen, da bin ich unbesorgt. Und wäre diese Gloria Weitz nicht ebenfalls von deiner Lauterkeit überzeugt gewesen, dann hätte sie irgendeiner Organisation etwas gespendet. Mach dich nicht klein, du warst großartig. Und das übrigens nicht nur in diesem Fall, Hulda kommt aus der Schwärmerei nicht mehr heraus. Deren Leben hast du ebenfalls verändert.«
Claire winkte ab, das machte sie verlegen, was er da sagte. »Früher oder später hätte Hulda schon Menschen kennengelernt, davon bin ich überzeugt.«
Wieder blickte er sie an.
»Claire, da du es immer wieder erwähnst, erinnere ich dich daran, dass du Ärztin bist, und als solche hast du Huldas Verfassung erkannt, ohne sie untersucht haben zu müssen. Nimm es doch einfach hin, dass du ein ganz besonderer Mensch bist.«
Als habe er bereits zu viel gesagt, drehte er sich abrupt um und sagte: »Ja, ich muss dann mal, mach’s gut.«
Ehe sie etwas sagen konnte, war er auf und davon, Claire blickte ihm ein wenig verunsichert hinterher. Sie war auf dieses Zusammentreffen gerade nicht vorbereitet gewesen, und es verwirrte sie mehr als geglaubt.
Sie