Leni freute sich über die Komplimente, die ihr die verehrte Frau Dr. Steinfeld gemacht hatte, doch in einem Fall musste sie sofort widersprechen.
»Von wegen beschauliche Praxis, ich bin fasziniert, welche Krankheiten Sie hier behandeln, und ich bin voller Hochachtung, was Sie alles wissen, Frau Doktor. Der Professor, in dessen Abteilung ich gearbeitet habe, konnte und wusste eine ganze Menge, doch gegen Sie ist er ein Waisenknabe. Ich bin auf jeden Fall überglücklich, hier arbeiten zu dürfen. Ich bin noch nie so gern zur Arbeit gegangen wie jetzt, und mein Mann freut sich, mich nun regelmäßig jeden Abend zu sehen, weil ich keinen Schichtdienst mehr machen muss.«
Wenn alle zufrieden waren, stimmte das Arbeitsklima, und das stimmte in der Praxis, keine Frage.
Roberta sagte Leni, dass sie in ihrem Schreibtisch Unterlagen über das System habe, weil sie selbst es zwar kenne, aber damit längst nicht so bewandert sei wie Ursel Hellenbrink.
Roberta lachte.
»Und was ich begriffen habe, das werden Sie erst recht, Leni. Da habe ich überhaupt keine Zweifel. Und während ich diese Unterlagen hole, habe ich eine Bitte. Bekomme ich einen Kaffee? Nebenan …« Sie brach ihren Satz ab, ging, und während Roberta in ihr Behandlungszimmer ging, eilte Leni in die kleine Kaffeeküche, um den Wunsch ihrer Chefin zu erfüllen.
Wenig später tranken sie zusammen Kaffee, sprachen über das System, doch dann konnte Leni sich eine Frage nicht verkneifen, und die stellte sie nicht aus Neugier, sondern weil sie involviert war und am Ausgang des Ganzen interessiert war.
»Das Mädchen …, gibt es eine Spur?«
»Leni, mehr als eine Spur, man hat Pia gefunden, und Alma Hermann hat sie hergebracht. Pia ist scheu und verunsichert, ich wollte ihr die Chance geben, erst einmal mit Alma allein in der neuen Umgebung zu sein.«
Leni warf ihrer Chefin einen bewundernden Blick zu. Das war typisch für ihre Chefin, immer dachte sie zuerst an die anderen …
*
Rosmarie war aufgeregt, ihr Sohn Fabian hatte seinen Besuch angekündigt. Dabei hatten sie es längst hinter sich, dass die Kinder sich ankündigen mussten. Das war früher gewesen, lag gefühlte Ewigkeiten zurück. Und auch sonst war etwas anders geworden, es kam nur noch Fabian, denn Stella.
Nein!
Daran wollte Rosmarie nicht mehr denken, man musste nicht immer wieder hervorkramen, was nur Schmerzen verursachte. Und es tat weh, verdammt weh, wie Stella sich verhielt, die ohne ein Wort zu sagen aus ihrem Leben verschwunden war.
Meta hatte den Tisch hübsch gedeckt, und Inge hatte einen Kuchen gebacken und ihn extra vorbeigebracht. Ja, das funktionierte jetzt, einfach etwas vorbeizubringen. Auch Meta, ihre Haushälterin, konnte backen. Doch selbst die hatte neidlos zugeben müssen, dass sie an die Backkünste von Inge Auerbach nicht herankam.
Heinz war in seinem Notariat, und Rosmarie hätte es eigentlich sehr gefreut, wenn er bei diesem Kaffeetrinken dabei wäre. Heinz hatte viel Arbeit vorgeschoben, doch Rosmarie war sich nicht sicher, ob das auch stimmte. Sie beide hatten als Eltern versagt, da hatten Heinz und sie sich in nichts nachzustehen. Doch während sich Rosmaries Verhältnis zu Fabian sehr verbessert hatte, gingen Vater und Sohn höflich miteinander um, doch die unsichtbare Mauer stand noch immer zwischen ihnen. Und da musste Rosmarie ihrem Mann einen kleinen Vorwurf machen. Für ihn wäre es leicht, einen Schritt auf Fabian zuzugehen, und schon würde die Mauer bröckeln. Leider hielt Heinz seine Gefühle unter Verschluss, und sie konnte von Glück reden, dass es zwischen ihnen anders geworden war. Cecile beklagte sich auch immer wieder darüber, zu ihrem Vater keinen so richtigen Zugang zu finden. Und das traf zu. Während Rosmarie und Cecile mittlerweile ein Herz und eine Seele waren, hatte Cecile zu ihrem Vater noch immer ein recht distanziertes Verhältnis, und das lag ganz gewiss nicht an ihr. Dabei brannte die junge Frau darauf, mehr von ihrem Vater, von dem sie erst als erwachsene Frau erfahren hatte, nicht nur zu wissen, sondern ihn kennenlernen, eine Beziehung zu ihm aufbauen.
Es klingelte, und Rosmarie wurde aus ihren Gedanken gerissen, eilte zur Tür, um zu öffnen, denn Meta war mit Beauty und Missie unterwegs. Sie wollte mit den Hunden um den See laufen, die ganz verrückt darauf waren, all die neuen Gerüche zu erschnuppern.
»Hallo, Mama«, begrüßte Fabian seine Mutter, umarmte sie, und Rosmarie stellte wieder einmal voller Stolz fest, was für ein prachtvoller Mann ihr Fabian doch war. Man konnte stolz auf ihn sein, und das war sie auch. Das allerdings war etwas, was man auch Heinz nicht absprechen durfte. Stolz war er schon auf Fabian, wenngleich die Enttäuschung bis heute nicht ganz verschwunden war, dass sein einziger Sohn nicht in seine Fußstapfen getreten und Notar geworden war.
»Schön, dass du da bist«, freute Rosmarie sich, und dann sah Fabian sich erst einmal um. Am Anfang ihrer Ehe hatten er und Ricky in diesem Haus gewohnt und glückliche Zeiten miteinander verbracht. Von dem alten Haus war mittlerweile allerdings nichts mehr zu erkennen. Es war größer, großzügiger geworden.
Weil Fabian nichts sagte, warf Rosmarie ihrem Sohn einen beinahe angstvollen Blick zu. Fabian war kritisch, vor allem nahm er kein Blatt vor den Mund, und Rosmarie konnte sich noch sehr gut daran erinnern, dass er ihre Villa verächtlich einen Palazzo Prozzo genannt hatte. Das war zum Glück Vergangenheit, und es waren keine glücklichen Jahre gewesen, die Heinz und sie in diesem Haus verbracht hatten, in dieser kalten Pracht, in der sie sich verloren vorgekommen waren. Niemand war dafür verantwortlich gewesen als sie selbst, als sie noch nach der Devise gelebt hatte größer, teurer, Rückert …
Nach dem ersten Rundgang wandte Fabian sich seiner Mutter zu. »Mama, Gratulation, es ist großartig, was du aus dem Haus gemacht hast. Es hat nur gewonnen.«
Er hatte nachdrücklich ›du‹ gesagt, weil er wusste, dass sein Vater daran nicht beteiligt gewesen war, da hielt er sich zurück.
Rosmarie freute sich, ein Lob aus dem Munde ihres Sohnes war wie ein Geschenk, weil Fabian mit solchen Äußerungen sehr sparsam umging.
Sie setzten sich, Rosmarie servierte Kaffee und Kuchen und Fabian rief: »Der Kuchen sieht aber lecker aus.«
»Er wird auch so schmecken, Fabian, denn den hat deine Schwiegermutter gebacken.«
Das konnte Rosmarie neidlos zugeben. Inge hatte es von vornherein besser gemacht als sie. Für Inge hatten immer die Kinder im Vordergrund gestanden, für Rosmarie ein Leben nach außen, in dem die Kinder so etwas wie eine Beigabe waren, die sich gut auf Fotos machten. Manches ließ sich nicht verändern, Rosmarie war glücklich, dass sich ihr Verhältnis zu Fabian geändert hatte, zum Guten hin. Die Herzlichkeit, wie sie bei Inge und ihren Kindern herrschte, die würde bei ihnen niemals einziehen.
»Ja, backen kann sie, die Inge«, bestätigte er, »und ich bin froh, dass Ricky viele der Talente ihrer Mutter geerbt hat. Doch am besten ist, dass sie das Herz auf dem rechten Fleck hat, ein sehr emphatischer Mensch ist, eine großartige Mutter, eine liebevolle Ehefrau, sie ist klug, und ich bin voller Bewunderung für meine Frau und werde nie aufhören, sie zu lieben. Und eigentlich müsste ich dem lieben Gott jeden Tag danken für dieses Geschenk.«
Wenn die Kinder glücklich waren, das hörte jede Mutter gern, und Fabian hatte mit Henrike Auerbach, die jeder nur Ricky nannte, in der Tat das ganz große Los gezogen, und bei den beiden war eingetroffen, wovon die meisten Menschen träumten, der Liebe auf den ersten Blick, einer Liebe, die alle Widerstände überwunden hatte, die im Laufe der Jahre tiefer, inniger geworden und die mit so vielen wundervollen Kindern gesegnet worden war.
Rosmarie nickte.
»Ja, Fabian, zu Ricky ist dir wirklich zu gratulieren. Und ich freue mich schon auf Sonntag, wenn du mit der ganzen Familie herkommen wirst. Der Tisch im ›Seeblick‹ ist reserviert, und zum Kaffeetrinken werden auch Inge, Pamela und die Großeltern