Damit wird der Gegenpol zu jenem Tod-im-Leben erreicht, der über weite Strecken den ersten Teil von Walden beherrscht. In „Economy“ klagt Thoreau: „There is nowhere recorded a simple and irrepressible satisfaction with the gift of life, any memorable praise of God“ (78). Walden will diesem spirituellen und kulturellen Defizit abhelfen und daran erinnern, dass die Schöpfung keineswegs beendet ist. So heißt es bereits im 2. Kapitel: „The morning wind forever blows, the poem of creation is uninterrupted; but few are the ears that hear it“ (85). Indem das Ich in den Lobpreis dieses ,Gedichts‘ einstimmt, hat es teil an einer Resakralisierung der Natur. Was das Ritual des Badens im See auf der Alltagsebene zu leisten vermochte, wird in „Spring“ ins Kosmische gesteigert. Darauf verweisen die zahlreichen Bezüge auf Mythos und Religion. Der Frühling reproduziert „the creation of Cosmos out of Chaos“, jedes Jahr beginnt mit ihm aufs Neue das Goldene Zeitalter der Ovidschen Metamorphosen (313–316). Und wie in den Anfangskapiteln Bibelzitate und -anspielungen auf die Verurteilung des Materialismus zielen, so kommt jetzt das Evangelium, die ‚frohe Botschaft‘ von der Auferstehung zum Tragen, und zwar mit der zugespitzten rhetorischen Frage des 1. Korintherbriefs (15, 55): „O Death, where was thy sting? O Grave, where was thy victory, then?“ (317).
Mit und in den Jahreszeiten leben heißt, dem Lauf der Sonne folgen. Im Zusammenhang mit dem Bohnenfeld war von einer ‚solaren‘ Perspektive die Rede; uns allen würde manche Sorge erspart, wenn wir uns klar machten, dass die Sonne ohne Unterschied auf bebaute wie unbebaute Felder scheint. Der Leser mag sich an Platons Sonnengleichnis aus dem 6. Buch der Politeia erinnern, im „Spring“-Kapitel wird der Sonnenmythos jedoch eher christlich gewendet, um am Ende einer kosmischen Sicht Platz zu machen. Der Schluss von Walden bündelt die Motiv- und Bildbereiche des Erwachens, des Morgens und der Sonne, zugleich überhöht er sie mit einem Wortspiel (sun – son) und einem Bild (der Morgenstern), das den Walden-Aufenthalt in die Nachfolge Christi stellt, und schließlich lässt er – mit einem zutiefst transzendentalistischen Gestus – sowohl den Solarmythos wie auch das Christentum hinter sich: „Only that day dawns to which we are awake. There is more day to dawn. The sun is but a morning star“ (333).
Jedes Frühjahr triumphiert das Leben über den Tod, und in dem Maße, wie wir an diesem Ereignis teilhaben, werden auch wir neu geboren. Die Überwindung des Todes ist ein spiritueller Vorgang, sein Gelingen aber hängt für Thoreau wesentlich vom Kontakt des Menschen mit der Natur ab. So folgt in Walden auf das Paulus-Zitat ein Plädoyer für die unberührte, wilde Natur; ohne deren belebende Kraft würde unsere Zivilisation absterben:
Our village life would stagnate if it were not for the unexplored forests and meadows which surround it. We need the tonic of wildness […]. At the same time that we are earnest to explore and learn all things, we require that all things be mysterious and unexplorable, that land and sea be infinitely wild, unsurveyed and unfathomed by us because unfathomable. We can never have enough of Nature (317f.).
Nach mäßiger Anerkennung im 19. Jahrhundert ist Walden im 20. Jahrhundert in den Kanon amerikanischer Meisterwerke aufgerückt. Daran haben die im Zuge der culture wars seit den 1970er Jahren durchgeführten Revisionen nichts geändert. Während Franklins Autobiography in den maßgeblichen College-Anthologien drastisch zugunsten weiblicher und ethnischer Autoren gekürzt wird, druckt die Norton Anthology of American Literature nach wie vor den kompletten Text von Walden ab – ein erstaunliches Phänomen, zumal Thoreau als WASP (White Anglo-Saxon Protestant) mit misogynen Anflügen voll ins Feindbild eines im Namen von gender-Gleichheit und Multikulturalismus vorgetragenen Revisionismus passt. Bedeutende Künstler haben sich von Thoreau inspirieren lassen, allen voran die Altmeister der musikalischen Avantgarde, Charles Ives und John Cage, und neuerdings Christopher Shultis.
Seit den 1960er Jahren besitzt Walden geradezu Kultstatus. Zur ‚Bibliothek‘ der Hippies gehörten neben Hermann Hesses Steppenwolf und Siddharta, Robert Heinleins Stranger in a Strange Land und Robert M. Pirsigs Zen and the Art of Motorcycle Maintenance auch Thoreaus „Civil Disobedience“ und Walden. Um die gleiche Zeit begann das Buch ein Kriterium des Klassikers zu erfüllen, das erst kürzlich, im Zuge der Rezeptionsästhetik, in die Debatte eingeführt worden ist. Balz Engler zufolge ist ein Klassiker „a work of literature that has left the book.“11 Wer von denen, die ein Verhalten als „quixotic“ bezeichnen und vom „Kampf gegen Windmühlen“ sprechen, hat Cervantes‘ Roman gelesen? Figuren wie Robinson, Frankenstein, Faust oder Don Juan, Wendungen wie „Sein oder Nichtsein“ und „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie“ sind längst sprichwörtlich geworden, sie führen ein Eigenleben jenseits der Romane oder Dramen, denen sie entstammen. 1948 fand Thoreaus Experiment eine Fortsetzung in B.F. Skinners Walden Two (1948), einer behavioristischen Utopie, die in das Programm einer bis heute existierenden Kommune einging. Die Hütte am Walden Pond ist zur Chiffre für Ökos, Alternative und Aussteiger geworden, von den militanten tree huggers Kaliforniens über die moderateren wise use-Ökologen im Sinne eines Wendell Berry, die Tiny House-Bewegung und Occupy Wall Street bis hin zu extremen, ja terroristischen Formen libertärer Staatsfeindlichkeit und schließlich der selbstzerstörerischen Zivilisationsflucht eines Christopher McCandless in Jon Krakauers Into the Wild.
Die amerikanischen Trends wiederum haben längst weltweite Resonanz bzw. Parallelen gefunden. Dem Beispiel Anne Donaths, der Lehrerin, die sich im Oberschwäbischen ein Holzhaus ohne Strom und fast ohne Möbel eingerichtet hat, ihre Kleidung und Schuhe nach Möglichkeit selbst herstellt und im Garten eigenes Gemüse zieht, lassen sich in den letzten Jahren zahlreiche vergleichbare Experimente hinzufügen, und immer wieder fällt dabei der Name Thoreau als Inspirationsquelle oder Bestätigung für diverse Formen alternativen Lebensstils, vom einfachen, anspruchslosen Leben bis hin zum entschiedenen Aussteigertum. Eine kuriose Blüte hat der Thoreau-Kult kürzlich auf dem deutschen Zeitschriftenmarkt getrieben; das Lifestyle-Magazin Walden gibt Tipps, wie ‚Mann‘ das Abenteuer der Wildnis ‚vor der Haustür‘ erleben kann, seine Leser „leben vorwiegend in der Stadt, telefonieren mit Apple, lesen Monocle, fahren DriveNow und Golf Variant für den Wochenendausflug, tragen RedwingBoots und 3Sixteen-Jeans.“12 Besonders amüsiert hätte Thoreau das Ergebnis einer Leserumfrage, wonach 69 % eine „hohe Ausgabenbereitschaft für Outdoorausrüstungen“13 haben.
Thoreaus Heimatstadt Concord, insbesondere Walden Pond und die (nachgebaute) Hütte gehören zu den Touristenattraktionen, wenn nicht gar Wallfahrtsorten Neuenglands. Der „different drummer“ (326), mit dem im Schlusskapitel von Walden das Bild des Nonkonformisten beschworen wird, hat sich zum Markenartikel für zahlreiche Produkte von Küchengeräten und Kochkursen zu CD-Labels und T-Shirts entwickelt. Mit einer Verzögerung von ein bis zwei Generationen hat Thoreau seinen Mentor Ralph Waldo Emerson eingeholt, ja überholt, indem er nicht nur wie jener zur Institution der elitären Hochkultur, sondern darüber hinaus auch zur Pop-Ikone avanciert ist. Neben den zahllosen Thoreau-Karikaturen, die offenbar nicht nur von Lesern des New Yorker goutiert werden, zeugt davon neuerdings auch ein (inzwischen mehrfach ausgezeichnetes) Computerspiel, mit dem das Walden-Experiment virtuell nachvollzogen werden kann.14
Wem diese Seite des Thoreau-Kults auf die Nerven geht, sei ein Besuch Concords empfohlen. Bei aller Kommerzialisierung hat sich das Städtchen ein erstaunliches Maß an Beschaulichkeit bewahrt. Neben Boston, Philadelphia und Gettysburg gehört es zu den großen Erinnerungsorten der USA; es war hier, an der über den Concord River führenden North Bridge, dass erstmals die Miliz der amerikanischen Kolonisten das Feuer auf reguläre britische Truppen eröffnete und jenen Schuss abfeuerte, der sich im Rückblick als Signal für den Unabhängigkeitskampf der USA und damit für eine Zäsur der Weltgeschichte darstellen würde. Wie es Emerson 1836 in seiner Hymne zur Einweihung des Denkmals an der Old North Bridge formulierte:
Here once the embattled farmers stood,
And fired the shot heard round the world.15
Damit ist ein Bezugsrahmen angedeutet, der zum Schluss kurz skizziert werden soll, lädt er doch zu einer ebenso