Der thematischen Fokussierung entspricht die literarische Form. Es ist möglich, die einzelnen Kapitel von Walden für sich als Essays zu lesen, ihre Anordnung ist jedoch schon im ersten Teil keineswegs beliebig. Motivische Parallelen und Kontraste, die Überleitungen, Wiederholungen und Variationen folgen dem Prinzip der inneren, organischen Form im Sinne Coleridges: Ein Kapitel wächst gleichsam aus dem anderen heraus, führt Gedanken und Bilder weiter, oder stellt sich quer zum vorher Gesagten. Geradezu straff aber wird die Struktur nach „Higher Laws“ und „Brute Neighbors“. In den folgenden Kapiteln schlägt die – angeblich „for convenience“ (84) getroffene – Entscheidung, die beiden Jahre am See zu einem zusammenzufassen, voll auf die Form durch. An die Stelle der bis dahin eher lockeren Essay-Folge tritt eine Art Plot, beherrscht vom Fortgang der Jahreszeiten. Im Oktober zwingt die einsetzende Kälte zum Verputzen der Hütte („House-Warming“), der Winter mit Schnee und Eis schränkt den Radius des Wanderers ein („Winter Visitors“, „Winter Animals“, „The Pond in Winter“), bis sich im Frühjahr mit dem Aufbrechen des Eises das Wiedererwachen der Natur ankündigt („Spring“). Am Ende steht der Entschluss, die Hütte zu verlassen und nach Concord zurückzukehren („Conclusion“). Was genau ihn dazu bewegt, kann Thoreau offenlassen, schließt doch die Zukunft nach allem, was er gelernt hat, die Aussicht auf „several more lives“ (323) ein. Die destruktive Dynamik des den ersten Teil beherrschenden Todes-im-Leben wird im Zyklus des neuen Lebens aufgehoben, einem Regenerationsvorgang, der sich Jahr um Jahr wiederholen wird: „And so the seasons went rolling on into summer“ (319). Im Unterschied zur gefallenen Welt von Ökonomie und Politik ist diese ‚Revolution‘ kein Leerlauf, sie kennt Tod und Leben, aber keinen Verschleiß.
Wie das Leben im Wald sich um den Walden Pond herum und auf ihm abspielt, so finden sich im See auch die verschiedenen Erscheinungsformen und Funktionen der Natur gebündelt. Thoreaus praktische und literarische Strategien umfassen ein breites Spektrum, vom Vermessen des Sees, der Beschreibung des Wassers aus verschiedenen Blickwinkeln und zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten, seiner ökonomischen Nutzung durch Angler und Eis-Arbeiter (Eisblöcke dienen als Kühlmittel) bis hin zu symbolischen und allegorischen Zuschreibungen. Am Gegenpol zur quantitativen Vermessung und zur kommerziellen Nutzung stehen die symbolisch-allegorischen und die rituellen, sakralen Funktionen. Das Wasser ist nicht nur physisch ungewöhnlich sauber, es steht auch für moralische Lauterkeit. Das Fehlen eines sichtbaren Zu- und Abflusses deutet auf Autonomie, auf ‚Charakter‘. Als Spiegel des Himmels vermittelt das Wasser Ahnungen von Transzendenz, Gerüchte über seine bodenlose Tiefe sprechen die Fantasie an. Symbolik gerinnt zur Allegorese, wenn er als „earth’s eye“ (186) oder „God’s Drop“ (194) apostrophiert wird. Dem Bewohner der Hütte dient der See zum Wasserschöpfen, als „my well ready dug“ (183), dem Angler bietet er mit seinen Fischen reichlich Nahrung. Im morgendlichen Bad verbinden sich praktische und sakrale Elemente; es dient der Reinigung und Erfrischung, zugleich ist es ein „religious exercise“ (88), in dem der Badende sich der Regenerationskraft des Wassers versichert.
In der Regel frühmorgens absolviert, ist das Baden einer von mehreren Modi dessen, was Thoreau als „morning work“ (36) bezeichnet. Wie das Jahr seine Jahreszeiten durchläuft, so hat auch der Tag seine Zyklen, mehr noch, der Tag ist das Jahr im Kleinen: „the day is an epitome of the year“ (301). Die privilegierte Tageszeit aber ist – dem Frühling des Jahres entsprechend – der Morgen. Er steht für das Erwachen, im Erwachen wiederum zeigt sich das Leben in gesteigerter Intensität. Glücklich der, dem es gelänge, mit der Sonne Schritt zu halten und den Morgen in den Tag hinein zu verlängern: „To him whose elastic and vigorous thought keeps pace with the sun, the day is a perpetual morning“ (89). Als höchste Form des Lebendigseins ist Wachsein nichts weniger als die Freisetzung des Göttlichen in uns; einem, der ganz wach wäre, könnte man, wie einem Gott, nicht ins Angesicht schauen: „I have never yet met a man who was quite awake. How could I have looked him in the face?“ (90).
Walden Pond ist ein Mikrokosmos. Im See kristallisiert sich eine Fülle konkreter Naturbeobachtungen ebenso wie symbolischer Assoziationen. Zugleich bietet er Anlass zu globalen Spekulationen, etwa wenn er mit anderen heiligen Gewässern wie dem Ganges in Dialog tritt. Immer wieder verbinden sich zentripetale und zentrifugale, erdgewandte und transzendente Dynamik. Als sich die Gedanken beim nächtlichen Angeln in „vast and cosmogonal themes in other spheres“ (175) verloren haben, werden sie durch ein Zupfen an der Angel wieder ‚geerdet‘. Kontemplation und Meditation wechseln mit Phasen, in denen Thoreau aktiv und bisweilen massiv in die Natur eingreift, etwa wenn er durch Paddelschläge Echoeffekte erzeugt oder durch Positionswechsel den Blickwinkel zum See verändert. Dass Thoreau bei allem Drang, der Natur nahezukommen, auch ein Gefühl für ihre Fremdheit bewahrt, zeigt die Jagd nach dem Taucher (loon). Was immer er anstellt, der Vogel schlägt ihm ein Schnippchen, ja mit seinem ‚Lachen‘ scheint er sich über die Anstrengungen des Jägers lustig zu machen (234–236).
Thoreaus Naturbegriff – wenn man denn von einem ‚Begriff‘ sprechen will – ist kaum auf einen Nenner zu bringen. Den einen erscheint er widersprüchlich, andere sehen in der femininen Konnotation vieler Naturbeschreibungen eine Verlängerung des altvertrauten patriarchalischen Bedürfnisses nach Herrschaft, nach Dominanz über die Natur. Hier ist durchaus Spielraum für Kontroversen, und er wird von der Kritik ausgiebig genutzt. Über jeden Zweifel erhaben ist dagegen Thoreaus stilistische Brillanz. Selbst seine schärfsten Kritiker stehen einigermaßen fassungslos vor Sätzen und Absätzen, die zu den komplexesten in englischer Sprache gehören und dabei stets transparent und kontrolliert daherkommen. Der Reichtum des Wortschatzes; der Wechsel von griffigen Aphorismen und anspruchsvollen Perioden; die zwanglose Kombination abstrakter Gedanken mit schlichten, der Alltagserfahrung entnommenen Bildern; eine Syntax, die wie die Prosa eines Melville in Moby-Dick die Lungen und das Hirn zu weiten scheint (so Cesare Pavese über Moby-Dick10); schließlich eine überzeugende, den Kriterien der organischen Form genügende Gesamtstruktur: Mit Walden ist Thoreau ein Buch gelungen, das seinem Traum von einem ‚natürlichen Buch‘ so nahe wie nur irgend möglich kommt.
Jeder Thoreau-Leser hat seine Lieblingsstellen, ich selbst finde seinen Stil am eindrucksvollsten dort, wo er zugleich locker und prägnant Beschreibung und Reflexion ineinander übergehen lässt, ein Verfahren, das er schon an Goethes Italienischer Reise bewundert hatte. Zu diesen Passagen gehört der Anfang von „Solitude“:
This is a delicious evening, when the whole body is one sense, and imbibes delight through every pore. I go and come with a strange liberty in Nature, a part of herself. As I walk along the stony shore of the pond in my shirt sleeves, though it is cool as well as cloudy and windy, and I see nothing special to attract me, all the elements are unusually congenial to me. The bullfrogs trump to usher in the night, and the note of the whippoorwill is borne on the rippling wind from over the water. Sympathy with the fluttering alder and poplar leaves almost takes away my breath; yet, like the lake, my serenity is rippled but not ruffled. These small waves raised by the evening wind are as remote from storm as the smooth reflecting surface. Though it is now dark, the wind still blows and roars in the wood, the waves still dash, and some creatures lull the rest with their notes. The repose is never complete. The wildest animals do not repose, but seek their prey now; the fox, and skunk, and rabbit, now roam the fields and woods without fear. They are Nature’s watchmen, – links which connect the days of animated life (129).
Die Häufung phonetischer Figuren (Alliterationen und Assonanzen); Wortwiederholungen in bald kürzeren, bald länger ausschwingenden Sätzen; asyndetische im Wechsel mit polysyndetischen Fügungen; die Positionierung des Ichs, das ganz auf die abendliche Szenerie eingestimmt ist, ohne sich in ihr zu verlieren; die Verbindung von Beschreibung und Reflexion: Thoreaus Gedichte wurden und werden nur von wenigen geschätzt, aber Passagen wie diese verbinden Anschauung und Nachdenken zu einer Poesie, die den Vergleich mit der Gedankenlyrik etwa William Wordsworths herausfordert. Im Blickwinkel des Gesamtwerks ist man kaum überrascht, auch hier eines von Thoreaus Lieblingsbildern zu finden: