100 Jahre Österreich. Johannes Kunz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Johannes Kunz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783903083790
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prominenten Persönlichkeit. Es konnte ein Herrscher sein, ein Politiker, ein Künstler, oder einfach jemand, der sich für wichtig hält, weil er gerade in irgendwelchen Schlagzeilen aufscheint. Das wesentliche Merkmal einer Anekdote besteht darin, dass durch ein Zitat oder eine Aktion die charakteristische Eigenart dieser Person verdeutlicht wird – eine repräsentative Momentaufnahme sozusagen. Erzählenswert wird so eine Anekdote vor allem dadurch, dass am Ende derselben eine überraschende Wendung – also eine Pointe – zu finden ist. Diese Pointe allerdings muss von irgendwem als solche erkannt werden – und solche Menschen sind fast so selten zu finden wie die zuvor erwähnten Humoristen.«

      Beginnen wir also unsere Zeitreise beim Ende der alten k. u. k. Monarchie, auf deren Trümmern das kleine Österreich als Republik entstand. Worüber konnten sich die Österreicher seinerzeit mokieren und amüsieren?

      Viel Vergnügen bei der Lektüre!

      Johannes Kunz

      Wien, im September 2017

      Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst

       Mit diesem Satz glossierte Karl Kraus die letzten Jahre der k. u. k. Monarchie, die vom Ersten Weltkrieg geprägt waren, der von 1914 bis 1918 in Europa, im Nahen Osten, in Afrika, in Ostasien und auf den Weltmeeren geführt wurde. 17 Millionen Menschen kamen darin um. Er begann am 28. Juli 1914 mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien nach dem Attentat von Sarajewo auf den Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und dessen Frau Sophie Chotek, Erzherzogin von Hohenberg.

       Mitten im Krieg starb 1916 Kaiser Franz Joseph I., der seit 1848 in Wien regiert hatte. Sein Nachfolger Karl I. vermochte das Kriegsgeschehen nicht zum Besseren zu wenden. Karl I. sollte der letzte Repräsentant jenes Systems werden, das der Begründer der Sozialdemokratischen Partei, Victor Adler, so definierte: »Österreich ist eine absolutistische Monarchie, gemildert durch Schlamperei.«

       Die Zeit der Monarchie lief langsam ab, da etablierte sich Anfang des 20. Jahrhunderts das Wiener Kabarett. 1906 eröffnete »Das Nachtlicht«. Roda Roda, Carl Hollitzer und Peter Altenberg traten hier auf. Und Karl Kraus gehörte zu den Stammgästen. Ebenfalls 1906 sperrte »Die Hölle« auf. Hier begann Fritz Grünbaum seine Karriere, der bald nach Berlin ging, von wo er 1914 zum »Simplicissimus« nach Wien zurückkehrte. »Die Fledermaus« startete 1907. Josef Hoffmann und Mitarbeiter der Wiener Werkstätte hatten die Innenausstattung gestaltet. Für Dekorationen und Programmzeichnungen sorgten Oskar Kokoschka, Gustav Klimt und Emil Orlik. Beiträge zum Programm lieferten Peter Altenberg, Hermann Bahr, Egon Friedell, Max Mell und Alfred Polgar. Auf der Bühne sah man u. a. Roda Roda. Der Erste Weltkrieg brachte eine Verschärfung der Zensurbestimmungen und verunmöglichte zunächst das politische Kabarett.

       Anlässlich der Verhängung eines Aufführungsverbotes für das Stück »Der Feldherrnhügel« von Roda Roda und Carl Rössler wurde den Autoren schroff mitgeteilt: »Solange die österreichisch-ungarische Monarchie besteht, wird dieses Stück nicht aufgeführt!« Darauf Rössler zu seinem Partner: »Lieber Roda, die paar Wochen wart mal halt noch!« Freilich konnte eine noch so strenge Zensur die Verbreitung von politischen Witzen über die Monarchie und den zunehmend negativen Kriegsverlauf nicht verhindern.

       Tauchen wir also ein in Stefan Zweigs »Welt von gestern«, in der sich nicht nur die modernen Parteien, sondern auch neue Formen von Unterhaltung herausbildeten, indem Kabaretts, Varietés und Kaffeehäuser zu Zentren bürgerlichen Vergnügens wurden.

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      Karl Lueger, Sohn eines Hochschulpedells, von Beruf Rechtsanwalt, ist von 1897 bis 1910 Wiener Bürgermeister. Der Christlich-Soziale, genannt »schöner Karl«, entwickelt sich zum Volkstribun. Wenngleich seine Partei antisemitisch eingestellt ist, hat er viele jüdische Freunde, wofür er diese apodiktische Erklärung hat: »Wer a Jud is, bestimm i.« Und obwohl die Christlich-Sozialen ihren Zulauf nicht zuletzt den kleinen Gewerbetreibenden verdanken, die sich von den Zuwanderern aus den verschiedenen Teilen der Monarchie bedrängt fühlen, quittiert Lueger Attacken gegen die vielen böhmischen Schuster und Schneider mit den Worten: »Laßt’s mir meine Böhm in Ruah …«

      In Kreisen des Hochadels inklusive Kaiser Franz Joseph I., der übrigens mehrmals die Bestätigung der Wahl Luegers zum Bürgermeister wegen dessen Antisemitismus verweigert, ist die christlich-soziale Partei als revolutionär verschrien. Lueger selbst ist stets auf die Propagierung der Leistungen seiner Stadtverwaltung bedacht. Auf keinem Bauwerk darf eine Gedenktafel mit dem Hinweis auf Bürgermeister Karl Lueger fehlen, der entweder der Initiator gewesen sei oder wenigstens den Denkanstoß hiezu gegeben habe. Als im Schönbrunner Zoo eine Zebukuh ein Junges zur Welt bringt, schlägt ein politischer Gegner des charismatischen Bürgermeisters vor: »Da muss dringend eine Tafel mit der Aufschrift hin: ›Geworfen unter dem Bürgermeister Karl Lueger.‹«

      Der aus einer großbürgerlichen jüdischen Familie stammende und ursprünglich bei den Deutschnationalen aktiv gewesene Arzt und Journalist Dr. Victor Adler, der 1888 auf dem Hainfelder Parteitag die österreichische Sozialdemokratie begründet, wird aufgrund seiner politischen Tätigkeit siebzehnmal bei Gericht angeklagt und muss insgesamt neun Monate hinter Gitter. In einem seiner Prozesse kommentiert er das so: »Es sind mir so viele Verbrechen, Vergehen und Übertretungen zur Last gelegt worden, als man überhaupt anständigerweise begehen kann.«

      Berühmt ist der Prozess vor dem sogenannten Holzinger-Senat, in dem sich Adler wegen Aufwiegelung zu verantworten hat. Nachdem ihn der Staatsanwalt mit einem Mann verglichen hat, der mit einer brennenden Fackel in einem Magazin voller Pulverfässer herumgeht, antwortet ihm Adler: »Wenn Sie keine Explosion haben wollen, dann räumen Sie die Pulverfässer weg!«

      Die Deutschnationalen unter Führung Georg von Schönerers sind die dritte Partei neben den Christlich-Sozialen und den Sozialdemokraten, die aus dem Zerfall der einst mächtigen liberalen Bewegung hervorgegangen ist und das politische Leben in der Monarchie mitbeherrscht. Aber um die Einigkeit der Großdeutschen ist es nicht gut bestellt. Über ihr Verhalten im Reichsrat geht der Spottvers um:

      »Der eine saß, der andre stand,

      Der stimmte für, der wider,

      Das ist der Nationalverband,

       Stimmt an das Lied der Lieder …«

      Als Franz Joseph vor einer wichtigen Abstimmung seinen Ministerpräsidenten fragt, wie sich wohl die Deutschnationalen verhalten würden, antwortet Graf Eduard Taaffe: »Es ist sehr schwer, Majestät, so aus dem Handgelenk zu sagen, was das Dümmste ist, was man machen kann.«

      Im Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts, das Karl Kraus eine »Versuchsstation für den Weltuntergang nennt«, befinden sich Josef Stalin, der hier seine Studie über das Nationalitätenproblem schreibt, Leo Trotzki, der im Café Central Schach spielt, wenn er nicht gerade die illegale »Prawda« redigiert, und der junge Nikolai Bucharin, den seine konspirative Tätigkeit so erschöpft hat, dass er einem Nervenzusammenbruch nahe ist. Er wendet sich daraufhin an Dr. Alfred Adler, den nachmaligen Schöpfer der Individualpsychologie, der ihm den Rat gibt, sich ein Mädchen zur Freundin zu nehmen. Als Adler einige Zeit später seinen Patienten fragt, ob das Mittel geholfen habe, erhält er zur Antwort: »Wunderbar! Wir haben die ganze Nacht über die Kapitalismustheorie von Rosa Luxemburg diskutiert!«

      Mit Beginn des Ersten Weltkrieges bricht eine schwere Zeit an – auch für die Politiker der betroffenen Nationen. Die besonderen Probleme der Abgeordneten schildert Aristide Briand, der französische Politiker: »Wenn der Abgeordnete nicht bei den Wählern ist, fragt man, wo er sich herumtreibt. Ist er bei seinen Wählern, fragt man, warum er in Zivil ist. Ist er in Uniform, fragt man, warum er nicht an der Front ist. Ist er an der Front, fragt man, warum er nicht verwundet ist. Ist er verwundet, fragt man, warum er nicht gefallen ist. Und ist er gefallen, kommen die Beschwerden, dass er die Briefe nicht beantwortet.«

      Feldzeugmeister Graf Pschistranek inspiziert ein Festungsartillerieregiment und