›Hast du überhaupt kein Ehrgefühl?‹ hatte Björn ihn gefragt.
›Das hast du Moralprediger doch für dich gepachtet‹, hatte Bob höhnisch erwidert. ›Ich überlasse dir Christina, wenn du mir das Geld gibst, das ich brauche.‹
Ein ironisches Grinsen hatte sich auf seinem Gesicht ausgebreitet.
›Und wenn ich ihrem Vater reinen Wein einschenke?‹, hatte Björn gefragt.
›Versuch es doch. Er ist an einem Skandal bestimmt nicht interessiert. Aber vielleicht lässt er es sich auch allerhand kosten, wenn ein solcher verhindert wird. Da hast du mich auf eine Idee gebracht, großer Bruder.‹
Ja, so skrupellos war Bob, und das Opfer hieß Christina. Es war nur nicht vorauszusehen gewesen, dass ihr Vater in diese Auseinandersetzung hineinplatzen würde.
Nein, zu einem Skandal wollte er es nicht kommen lassen. Bob hatte richtig kalkuliert. Er ließ es sich etwas kosten, seiner Tochter diese entsetzliche Demütigung zu ersparen, einem Mann das Jawort zu geben, der nur ihr Geld wollte. Christinas Vater hatte damals vor, ihr zu erklären, dass Bob einen Unfall gehabt hätte und die Hochzeit verschoben werden müsse.
Hatte er damit die bösen Geister beschworen? Björn krochen bei diesem Gedanken auch jetzt noch kalte Schauer über den Rücken.
*
Christina stand am Fenster und blickte zum Himmel empor. Die Regenwolken hatten sich verzogen und das sternenübersäte Firmament ihren Blicken freigegeben.
»Papa«, flüsterte sie, »wenn du doch leben würdest, wenn ich mit dir sprechen könnte.«
Heiß stiegen ihr die Tränen in die Augen. Durch einen Schleier sah sie das gütige Gesicht ihres Vaters, mit dem schmerzlichen, sorgenvollen Ausdruck jenes Abends, der so lange aus ihrer Erinnerung ausgelöscht gewesen war und nun wieder in allen Einzelheiten in ihrem Bewusstsein auflebte.
»Warum siehst du so bekümmert aus, Papa?«, hatte sie gefragt. »Ich bleibe doch auch als Ehefrau deine Tochter. Wir werden uns oft sehen. Bob wird nichts dagegen haben.«
»Ich muss dir etwas sagen, Chrissy. Bitte, höre mir zu und reg dich nicht auf. Es ist etwas passiert. Die Hochzeit muss verschoben werden.«
»Was ist passiert, Papa …?« Geschrien hatte sie es voller Angst. »Sag nicht, dass Bob tot ist, bitte, sag es nicht.«
Die Bilder vor ihren Augen flimmerten durcheinander. Das gramvolle Gesicht ihres Vaters, das lachende von Bob, das zu einer verzerrten Grimasse wurde.
Auch jener Nacht war ein Morgen gefolgt, ein herrlicher Frühlingsmorgen, der ihr vorgaukelte, nur einen bösen Traum gehabt zu haben. Und dann hatte ihr Vater gesagt, dass sie Bob nie mehr wiedersehen würde, dass er tot sei. Wenig später war auch ihr Vater tot gewesen. Und sie?
Ihre rechte Hand tastete sich zu ihrem Gesicht empor und wischte die Tränen von den Wangen.
Sie lebte, das Blut pulsierte in ihren Adern, sie hörte ihre eigene Stimme, die sagte: »Ich lebe, ich lebe trotz allem.«
Und nun war sie auch nicht mehr allein im Zimmer. Eine weiche Mädchenstimme fragte: »Christina, kann ich etwas für Sie tun?«
Christina sah Katja an, verwirrt, ängstlich, durch diesen Tränenschleier hindurch.
»Sie sollten noch ein wenig an die frische Luft gehen«, schlug Katja vor. »Das tut gut.«
»Ich habe einen Ausflug in die Vergangenheit gemacht«, murmelte Christina tonlos.
Katja nahm ihren Arm. »Die Gegenwart ist lebendig, Christina«, sagte sie leise. »Kommen Sie.«
Christina ging mit ihr wie in Trance. Ein leichter Wind verwehte ihr Haar und trocknete die letzten Tränen. In ihrer Manteltasche hatte sie vergeblich nach einem Taschentuch gesucht und sagte nun verlegen: »Ich habe kein Taschentuch.«
Katja zog ein Päckchen Papiertaschentücher aus der Tasche. »Nehmen Sie das«, sagte sie und drückte ihr eines in die Hand. »Ich nehme nur Papiertücher, weil ich die anderen dauernd verliere.«
Sie waren fast gleich groß, und wie von selbst fanden sich ein paar Sekunden später ihre Hände.
»Als Mutti mich auf die Insel brachte, saß ich im Rollstuhl«, sagte Katja leise. »Das Leben erschien mir so sinnlos.«
»Sie hatten einen Unfall?«, fragte Christina stockend.
»Ich geriet beim Skifahren mit meinem Verlobten in eine Lawine. Mich fand man, er hat es nicht überlebt. Ich war vom Schock gelähmt und wollte nicht glauben, dass das Leben für mich weitergehen soll. Ein halbes Jahr zuvor hatte ich meinen Vater verloren. Sehen Sie, Christina, auch für mich ist das Leben wieder lebenswert geworden, und meine Mutter hat in Johannes Cornelius einen Lebenskameraden gefunden, mit dem sie glücklich wurde.«
Eigentlich hatte Katja darüber nicht sprechen wollen, doch die Worte kamen ihr wie von selbst über die Lippen.
»Und Sie, Katja?«, fragte Christina. »Sind Sie glücklich?«
»O ja, die kleinen Zweifel, die einem manchmal kommen, ausgeklammert. Aber man kann nicht immer auf rosaroten Wolken schweben. Das Leben hat halt auch seine Schattenseiten. Wir wissen nicht, was uns vorbestimmt ist. Wir müssen es hinnehmen«, sagte Katja ernst.
Schweigend gingen sie wieder eine Zeit lang nebeneinander her.
»Wie alt sind Sie eigentlich, Katja?«, fragte Christina.
»Gerade zwanzig geworden. Und Sie?«
»Einundzwanzig. Oder bin ich schon zweiundzwanzig? Ich habe gar nicht mehr nachgedacht. Für mich waren die Monate bedeutungslos. Ich vegetierte nur dahin.«
»Damit ist es jetzt vorbei«, sagte Katja aufmunternd. »Eigentlich könnten wir uns ja auch duzen, oder ist das aufdringlich?«
Christina schüttelte den Kopf.
»Nein. Es ist schön, wenn man eine Freundin hat, wenn man nicht allein ist. Ich danke dir.«
Katja legte den Arm um ihre Schultern. »Jetzt werde ich dir etwas zeigen, Christina. Siehst du den?Mond?«
»Es ist Vollmond«, sagte Christina. »Man kann ihn nicht übersehen.«
»Er wirft die Schatten hinter uns, aber er schaut auf die Quelle herab. Hörst du das Plätschern?«
Christina lauschte. »Ja, ich höre es. Was ist es für eine Quelle?«
»Wir nennen sie die Quelle der Liebe. Glaubst du an Wunder, Christina?«
»Nein.«
»Dann wirst du es lernen.« Mit sanfter Gewalt schob Katja Christina vor sich her zu der Quelle. Das Wasser quoll aus den Steinen hervor und wurde vom Mondlicht in einen silberglänzenden Strahl verwandelt.
»Beug dich herab, fang das Wasser auf und netze dein Gesicht damit«, sagte Katja, »und dann trink es. Nur ein paar Schluck.«
Christinas Gesicht, das von den salzigen Tränen brannte, konnte eine Kühlung vertragen. Mit magischer Kraft fühlte sie sich von dem Wasserstrahl angezogen und beugte sich tief hinab, hielt ihr Gesicht darunter und öffnete die Lippen, um etwas von dem köstlichen kühlen Nass zu trinken.
Katja betrachtete das kniende Mädchen, das nun die Hände ineinander verschlungen hatte und zum Himmel emporblickte. Jetzt war sie es, der die Tränen in die Augen stiegen, doch es gelang ihr, diese zurückzudrängen.
Behutsam griff sie nach Christinas Händen und hob sie empor.
Katja