»Erleben« und »Erfahren«, die Gottl einander so schroff gegenüberstellt169, sind in der Tat Gegensätze, aber auf dem Gebiet der »innern« in keinem andern Sinn wie auf dem der »äußern« Hergänge, beim »Handeln« nicht anders als in der »Natur«. »Verstehen« – im Sinne des evidenten »Deutens« – und »Erfahren« sind auf der einen Seite keine Gegensätze, denn jedes »Verstehen« setzt (psychologisch) »Erfahrung« voraus und ist (logisch) nur durch Bezugnahme auf »Erfahrung« als geltend demonstrierbar. Beide Kategorien sind anderseits insofern nicht identisch, als die Qualität der »Evidenz«170 das »Verstandene« und »Verständliche« dem bloß (aus Erfahrungsregeln) »Begriffenen« gegenüber auszeichnet. Das Spiel menschlicher »Leidenschaften« ist sicherlich in einem qualitativ andern Sinn »nacherlebbar« und »anschaulich« als »Natur«-Vorgänge es sind. Aber diese »Evidenz« des »verständlich« Gedeuteten ist sorgsam von jeder Beziehung zur »Geltung« zu trennen. Denn sie enthält nach der logischen Seite lediglich die Denkmöglichkeit und nach der sachlichen lediglich die objektive Möglichkeit171 der »deutend« erfaßbaren Zusammenhänge als Voraussetzung in sich. Für die Analyse der Wirklichkeit aber kommt ihr, lediglich um jener ihrer Evidenz-Qualität willen, nur die Bedeutung entweder, – wenn es sich um die Erklärung eines konkreten Vorganges handelt, – einer Hypothese, oder, – wenn es sich um die Bildung genereller Begriffe handelt, sei es zum Zweck der Heuristik oder zum Zweck einer eindeutigen Terminologie, – diejenige eines »idealtypischen« Gedankengebildes zu. Der gleiche Dualismus von »Evidenz« und empirischer »Geltung« ist aber auf dem Gebiet der an der Mathemathik orientierten Disziplinen, ja gerade auf dem Gebiet des mathematischen Erkennens selbst172, ganz ebenso vorhanden, wie auf demjenigen der Deutung menschlichen Handelns. Während aber die »Evidenz« mathematischer Erkenntnisse und der mathematisch formulierten Erkenntnis quantitativer Beziehungen der Körperwelt »kategorialen« Charakter hat, gehört die »psychologische« Evidenz in dem hier behandelten Sinn in das Gebiet des nur Phänomenologischen. Sie ist – denn hier erweist sich die Lippssche Terminologie als recht brauchbar – phänomenologisch bedingt durch die spezielle Färbung, welche die »Einfühlung« in solche qualitativen Hergänge besitzt, deren wir uns als objektiv möglicher Inhalte der eignen inneren Aktualität bewußt werden können. Ihre indirekte logische Bedeutung für die Geschichte ist gegeben durch den Umstand, daß zum »einfühlbaren« Inhalt fremder Aktualität auch jene »Wertungen« gehören, an denen der Sinn des »historischen Interesses« verankert ist, und daß daher seitens einer Wissenschaft, deren Objekt, geschichtsphilosophisch formuliert, »die Verwirklichung von Werten« darstellt173, die selbst »wertenden« Individuen stets als die »Träger« jenes Prozesses behandelt werden174.
Zwischen jenen beiden Polen –: der kategorialen mathematischen Evidenz räumlicher Beziehungen und der phänomenologisch bedingten Evidenz »einfühlbarer« Vorgänge des bewußten Seelenlebens, – liegt eine Welt von weder der einen noch der andern Art von »Evidenz« zugänglichen Erkenntnissen, die aber um dieses phänomenologischen »Mangels« willen natürlich nicht das Allermindeste an Dignität oder empirischer Geltung einbüßen. Denn, um es zu wiederholen, der Grundirrtum der von Gottl akzeptierten Erkenntnistheorie liegt darin, daß sie das Maximum »anschaulicher«175 Evidenz mit dem Maximum von (empirischer) Gewißheit verwechselt. Wie das wechselvolle Schicksal der sogenannten »physikalischen Axiome« immer wieder den Prozeß zeigt176,
daß eine in der Erfahrung sich bewährende Konstruktion die Dignität einer Denknotwendigkeit prätendiert, so hat die Identifikation von »Evidenz« mit »Gewißheit« oder gar – wie manche Epigonen K. Mengers wollten – mit »Denknotwendigkeit« bei »idealtypischen« Konstruktionen auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften ganz entsprechende Irrtümer gezeitigt, und auch Gottl z.B. in manchen Aufstellungen in seiner »Herrschaft des Worts« den gleichen Weg betreten177. Allem Gesagten zum Trotz wird man nun aber doch daran festhalten wollen, daß jedenfalls auf einem Gebiet die an sich nur erkenntnispsychologische Bedeutung der »nacherlebenden Deutung« de facto den Sinn des »Geltens« annehme: da nämlich, wo eben bloße nicht artikulierte »Gefühle« historisches Erkenntnisobjekt und eben daher die Suggestion von entsprechenden »Gefühlen« bei uns das einzige mögliche Erkenntnisideal sei. Das »Einleben« eines Historikers, Archäologen, Philologen in »Persönlichkeiten«, »Kunstepochen«, »Sprachen« erfolge in Gestalt bestimmter »Gemeingefühle«, »Sprachgefühle« usw., und man hat178 diese Gefühle geradezu als den sichersten »Canon« für die historische Bestimmung z.B. der Provenienz einer Urkunde, eines Kunstwerks, oder für die Deutung der Gründe und des Sinnes einer historischen Handlung hingestellt. Da nun der Historiker anderseits bezwecke und bezwecken müsse, uns die »Kulturerscheinungen« (wozu natürlich z.B. auch einzelne historisch, speziell auch rein politisch bedeutsame »Stimmungen« gehören) »nacherleben« zu lassen, sie uns zu »suggerieren«, so sei wenigstens in diesen Fällen diese suggerierende »Deutung« ein Vorgang, welcher gegenüber der begrifflichen Artikulation auch erkenntnistheoretisch autonom sei.
Versuchen wir, in diesen Ausführungen Zutreffendes von Falschem zu sondern. Was zunächst jene behauptete Bedeutung der »Gemeingefühle« oder »Totalitätsgefühle« als »Canon« der kulturhistorischen Einordnung oder der Deutung von »Persönlichkeiten« anlangt, so ist die Bedeutung des – wohlgemerkt: durch konstante denkende Beschäftigung mit dem »Stoff«, d.h. aber: durch Uebung, also »Erfahrung« erworbenen179 – »Gefühls« für die psychologische Genesis einer Hypothese im Geist des Historikers sicherlich von eminenter Bedeutung, ja geradezu unentbehrlich: durch bloßes Hantieren mit »Wahrnehmungen« und »Begriffen« ist noch keinerlei wertvolle historische, aber auch keinerlei Erkenntnis irgendwelcher andern Art, »geschaffen« worden. Was dagegen die angebliche »Sicherheit« im Sinn des wissenschaftlichen »Geltens« anlangt, so wird jeder gewissenhafte Forscher die Ansicht auf das bestimmteste ablehnen müssen, daß der Berufung auf »Totalitätsgefühle«, z.B. auf den »allgemeinen Charakter« einer Epoche, eines