Seine Schriften zur Wissenschaftslehre. Max Weber. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Max Weber
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Математика
Год издания: 0
isbn: 9783849612269
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Art gar nicht besteht. Es ist schon rein faktisch nicht generell richtig, daß die Gewinnung historischer Erkenntnis mit der »Deutung« einsetzt. Die Rolle ferner, welche unsere »historische« oder allgemeiner: deutende Phantasie in der »Erschließung« geschichtlicher Hergänge spielt, fällt auf dem Gebiet des physikalischen Erkennens z.B. etwa der »mathematischen Phantasie« zu, und die Erprobung der so gewonnenen Hypothesen – denn darum handelt es sich hier und dort – ist ein, logisch betrachtet, keineswegs prinzipiell verschiedener Vorgang. Ranke »erriet« die geschichtlichen Zusammenhänge ganz ebenso wie Bunsens »Experimentierkunst« an ihm als die spezifische Grundlage seiner Erfolge bewundert zu werden pflegt. Besteht hier also ein Unterschied, so ist er jedenfalls mit der Funktion der »Erschließung«, auf die Gottl immer wieder zurückkommt, nicht charakterisiert. – Gottl spezialisiert nun seine Behauptung näher dahin, daß

      2. jene »Erschließung« historischen Geschehens eine solche »vom Boden der Denkgesetze« aus sei, worauf es beruhe, daß für die Geschichte als Bestandteil des von ihr zu schildernden Geschehens nur in Betracht komme, was »durch logische Denkgesetze erfaßbar« sei, alles andere aber – so etwa historisch relevante Naturereignisse, wie der Einbruch des Zuyder Sees oder des Dollart usw. – als bloße »Verschiebung« der »Bedingungen« des sie allein interessierenden menschlichen Handelns.

      Hier ist die Verwendung des vieldeutigen Gegensatzes von »Ursache« und »Bedingung« – auf dessen Sinn hier nicht im einzelnen einzugehen ist – in diesem Zusammenhang zu beanstanden. Wer eine »Geschichte« der Syphilis schreibt – d.h. die kulturgeschichtlichen Wandlungen verfolgt, welche ihr Auftreten und ihre Verbreitung ursächlich beeinflußt haben, um dann andererseits die durch sie hervorgerufenen oder doch mitbedingten kulturhistorischen Erscheinungen von ihr aus ursächlich zu erklären –, der wird im allgemeinen die Krankheits-Erreger als »Ursache«, die kulturhistorischen Situationen als wandelbare »Bedingungen« einerseits, »Folgen« anderseits, zu behandeln haben. Gleichwohl wird, soweit seine Arbeit ein Beitrag zur Kulturgeschichte, und nicht eine Vorarbeit für eine klinische Theorie zu sein beabsichtigt, dasjenige Moment bestehen bleiben, welches als berechtigter Kern der irrig formulierten Gottlschen Darlegungen übrig bleibt: das wissenschaftliche Interesse ist in letzter Instanz in denjenigen Bestandteilen des historischen Ablaufs verankert, welche verständlich deutbares menschliches Sich-Verhalten in sich schließen, auf die Rolle, welche jenes für uns »sinnvolle« Tun in seiner Verflechtung mit dem Walten »sinnloser« Naturmächte gespielt, und auf die Beeinflussungen, welche es von dorther erfahren hat. Insofern also, als die Geschichte die »Naturvorgänge« stets auf menschliche Kulturwerte bezieht, daher stets ihr Einfluß auf menschliches Handeln die Gesichtspunkte der Untersuchung – wenn sie eben eine historische sein will – bestimmt, aber auch nur insofern, ist Gottls Ansicht begründet. Es ist auch hier wieder nur jene schon früher erörterte spezifische Wendung unseres wertbedingten Interesses, welche in Verbindung mit sinnvoller Deutbarkeit auftritt, was Gottl vorschwebt. – Ein sehr entschiedener Mißgriff aber ist es natürlich, wenn von Erschließbarkeit des historischen Geschehens auf dem Boden der »logischen Denkgesetze« gesprochen wird, wo doch nur dessen Zugänglichkeit für unser nacherlebendes Verstehen – eben seine »Deutbarkeit« – gemeint ist. Ganz irrelevant ist sachlich diese Terminologie keineswegs, denn nicht nur spricht Gottl infolgedessen an anderer Stelle da, wo es heißen sollte: »verständliches Handeln«, von »vernünftigem Geschehen« – was offenbar etwas ganz und gar anderes, durch ein Werturteil Qualifiziertes besagt –, sondern jene Gleichsetzung von dem, was wir »deutend« zu verstehen vermögen, mit logisch erschließbarem Tun, wie sie in Gottls hier stark schillernder Terminologie liegt, spielt auch in der Praxis der Kulturwissenschaften, und zwar auch der Historiographie, noch heute zuweilen ihre Rolle, und kann dann zu einem Prinzip rationaler Konstruktion historischer Vorgänge führen, welches der Wirklichkeit Gewalt antut152. Die »Erschließung« eines Sinnes einer Handlung aus der gegebenen Situation, unter Voraussetzung des rationalen Charakters ihrer Motivierung, ist stets lediglich eine zum Zweck der »Deutung« vorgenommene Hypothese, die prinzipiell immer der empirischen Verifizierung bedarf, mag sie in tausenden von Fällen noch so sicher erscheinen, und die dieser Verifizierung auch zugänglich ist. Denn wir »verstehen« nun einmal das irrationale Walten der maßlosesten »Affekte« genau so gut wie den Ablauf rationaler »Erwägungen«, und das Handeln und Fühlen des Verbrechers und des Genius – obwohl wir uns bewußt sind, es nie selbst haben erleben zu können – vermögen wir im Prinzip wie das Tun des »Normalmenschen« nach zuerleben, wenn es uns adäquat »gedeutet« wird153. Nur dies: die »Deutbarkeit« menschlichen Handelns als Voraussetzung der Entstehung des spezifisch »historischen« Interesses besagt denn auch das von Ranke ebensowohl wie von neueren Methodologen154 stark betonte »Axiom aller historischen Erkenntnis« von der »prinzipiellen Gleichheit« der Menschennatur. Denn der »normale« Mensch und das »normale« Handeln sind natürlich ganz ebenso zu bestimmten Zwecken konstruierte idealtypische Gedankengebilde, wie – im umgekehrten Sinne – das bekannte »kranke Pferd« in Hoffmanns »Eisernem Rittmeister«, und das »Wesen« z, B. des Affekts eines Tiers »verstehen« wir durchaus in gleichem Sinn wie den menschlichen. Schon dies zeigt, daß – im Gegensatz zu Gottls Annahme – die »Deutung« natürlich keineswegs ausschließlich im Wege einer von »Objektivierung« freien Anschaulichkeit und einer einfachen Nachbildung entstanden zu denken ist. Nicht nur ist die deutende »Erschließung« eines konkreten Gedankens gelegentlich gerade auf die Unterstützung durch klinisch-pathologische Kenntnisse angewiesen155, sondern sie bedient sich selbstredend überhaupt, im Gegensatz zu Gottls Annahme, fortwährend der »Kontrolle« durch »Erfahrung« in logisch gleichem Sinn wie die Hypothesen der »Naturwissenschaften«.

      Man hat zwar – und so verfährt im wesentlichen auch Gottl – zugunsten einer spezifischen »Gewißheit« der »Deutungen« gegenüber anderen Erkenntnisarten geltend gemacht, daß der sicherste Inhalt unseres Wissens das »eigene Erlebnis« sei156. Das ist – in einem bestimmten, gleich zu erörternden Sinn – richtig, sobald als Gegensatz dazu fremde »Erlebnisse« gemeint sind, sobald ferner der Begriff des »Erlebnisses« auf die in einem bestimmten Moment uns unmittelbar gegebene psychische und physische Welt erstreckt wird und sobald unter dem »Erlebten« nicht die von der wissenschaftlichen Betrachtung zu formende Wirklichkeit gemeint ist, sondern die Gesamtheit der »Wahrnehmungen« in Verbindung mit den gänzlich ungeschieden mit ihnen verbundenen »Empfindungen«, »Wollungen«, – den »Stellungnahmen« also, die wir in jedem Augenblick vollziehen und deren wir uns in dem betreffenden Augenblick in sehr verschiedenem Grade und Sinn »bewußt« werden. So gemeint, ist aber das »Erlebte« etwas, was nicht zum Objekt von Urteilen im Sinn der empirischen Tatsachenerklärung gemacht wird und daher im Zustande der Indifferenz gegenüber jeder empirischen Erkenntnis verharrt. Soll dagegen unter dem »Erlebten« das »psychische« Geschehen »in« uns im Gegensatz zu der Gesamtheit des Geschehens »außer« uns – gleichviel wie die Grenze zwischen beiden gezogen wird – verstanden sein, und soll dies »psychische« Geschehen als Gegenstand einer gültigen Tatsachen-Erkenntnis verstanden werden – dann liegt die Sache selbst nach der von Gottl akzeptierten Auffassung Münsterbergs eben doch wesentlich anders.

      Aber auch wenn man – wie dies Gottls Intentionen entspricht – sich jenseits der zur »Introjektion leitenden Scheidung des Erlebten« in »physische« und »psychische« Teile der objektivierten Wirklichkeit hält, die »physische« Welt also nur als Anlaß unsrer Stellungnahme »auffaßt«, setzt jede gültig-sein-wollende Erkenntnis erlebbarer konkreter Zusammenhänge »Erfahrung« von logisch gleicher Struktur wie jede Bearbeitung der »objektivierten« Welt voraus. Zunächst enthält ja das zum Gegenstand der Deutung gemachte Sich-Verhalten von Menschen überall Bestandteile, welche ganz ebenso als letzte »Erfahrungen« einfach hinzunehmen sind wie irgendwelche »Objekte«. Nehmen wir etwas Allereinfachstes: Der Vorgang der »Einübung« geistigen Könnens, wie er überall in der Kulturgeschichte begriffliche Verwendung findet, ist ganz gewiß unmittelbar »verständlich« in seinem Hergang und seinen Konsequenzen. Wie er abläuft, kann für gewisse meßbare Bestandteile Gegenstand von exakter »Psychometrie« werden, im übrigen kennen wir seinen Effekt aus massenhafter