1. Unser kausales Bedürfnis kann bei der Analyse menschlichen Sichverhaltens eine qualitativ andersartige Befriedigung finden, welche zugleich eine qualitativ andere Färbung des Irrationalitätsbegriffs nach sich zieht. Wir können für seine Interpretation uns, wenigstens prinzipiell, das Ziel stecken, es nicht nur als »möglich« im Sinn der Vereinbarkeit mit unserem nomologischen Wissen »begreiflich« zu machen, sondern es zu »verstehen«, d.h. ein »innerlich« »nacherlebbares« konkretes »Motiv« oder einen Komplex von solchen zu ermitteln, dem wir es, mit einem je nach dem Quellenmaterial verschieden hohen Grade von Eindeutigkeit, zurechnen. Mit anderen Worten: individuelles Handeln ist, seiner sinnvollen Deutbarkeit wegen, – soweit diese reicht, – prinzipiell spezifisch weniger »irrational« als der individuelle Naturvorgang. Soweit die Deutbarkeit reicht: denn wo sie aufhört, da verhält sich menschliches Tun wie der Absturz jenes Felsblocks: die »Unberechenbarkeit« im Sinn der fehlenden Deutbarkeit ist, mit anderen Worten, das Prinzip des »Verrückten«. Wo es für unser historisches Erkennen auf ein im Sinne der Undeutbarkeit »irrationales« Verhalten einmal ankommt, da muß freilich unser kausales Bedürfnis regelmäßig sich mit einem an dem nomologischen Wissen etwa der Psychopathologie oder ähnlicher Wissenschaften orientierten »Begreifen« ganz in dem Sinn begnügen, wie bei der Gruppierung jener Felssplitter, – aber eben auch nicht mit weniger. Den Sinn dieser qualitativen Rationalität »deutbarer« Vorgänge kann man sich leicht veranschaulichen. Daß bei einem konkreten Würfeln mit dem Würfelbecher die Sechs nach oben fällt, ist, – sofern der Würfel nicht »falsch« ist, – durchaus jeder kausalen Zurechnung entzogen. Es erscheint uns als »möglich«, d.h. gegen unser nomologisches Wissen nicht verstoßend, aber die Ueberzeugung, daß es »notwendig« so kommen mußte, bleibt reines a priori. Daß in einer sehr großen Zahl von Würfen sich – »Richtigkeit« des Würfels vorausgesetzt – die nach oben fallenden Zahlen annähernd gleich auf alle sechs Flächen verteilen, erscheint uns »plausibel«, wir »begreifen« diese empirisch feststellbare Geltung des »Gesetzes der großen Zahlen« dergestalt, daß das Gegenteil: – dauernde Begünstigung gewisser einzelner Zahlen trotz immer weiterer Fortsetzung des Würfelns, – uns die Frage nach dem Grunde, dem dieser Unterschied zuzurechnen sein könnte, aufdrängen würde. Aber das Charakteristische ist offenbar die wesentlich »negative« Art, in der hier unser kausales Bedürfnis abgespeist wird, verglichen mit der »Deutung« statistischer Zahlen, welche z.B. die Einwirkung bestimmter ökonomischer Veränderungen etwa auf die Heiratsfrequenz wiedergeben und welche durch unsere eigene, von der Alltagserfahrung geschulte, Phantasie zu einer wirklich positiv kausalen Deutung aus »Motiven« heraus wird. Und während auf dem Gebiet des »Undeutbaren« der individuelle Einzelvorgang: – der einzelne Wurf mit dem Würfel, die Splitterung des abstürzenden Felsens – durchaus irrational in dem Sinn blieb, daß wir uns mit dem Feststehen der nomologischen Möglichkeit: – Nichtwiderspruch gegen Erfahrungsregeln – begnügen mußten und erst die Vielheit der Einzelfälle unter bestimmten Voraussetzungen darüber hinaus zu »Wahrscheinlichkeitsurteilen« zu führen vermochte, – gilt uns z.B. das Verhalten Friedrichs II. im Jahre 1756, in einer einzelnen höchst individuellen Situation also, nicht nur als nomologisch »möglich«, wie jene Felssplitterung, sondern als »teleologisch« rational, nicht in dem Sinn, daß wir in kausaler Zurechnung zu einem Notwendigkeitsurteil gelangen könnten, wohl aber dergestalt, daß wir den Vorgang als »adäquat verursacht«, – d.h. als, bei Voraussetzung bestimmter Absichten und (richtiger oder fälschlicher) Einsichten des Königs und eines dadurch bestimmten rationalen Handelns, »zureichend« motiviert finden. Die »Deutbarkeit« ergibt hier ein Plus von »Berechenbarkeit«, verglichen mit den nicht »deutbaren« Naturvorgängen. Sie steht, rein auf den Modus der Befriedigung des Kausalitätsbedürfnisses hin angesehen, den Fällen der »großen Zahlen« gleich. Und selbst wenn die »rationale« Deutbarkeit aus Absichten und Einsichten mangelt, also z.B. »irrationale« Affekte hineinspielen, bleibt das Verhältnis wenigstens möglicherweise noch ein ähnliches, da wir auch sie, bei Kenntnis des »Charakters«, als in ihrer Wirkung »verständliche« Faktoren in die Zurechnung einzustellen vermögen. Erst wenn wir, wie zuweilen bei Friedrich Wilhelm IV., auf [eine] direkt pathologische, die Deutung ausschließende Sinn- und Maßlosigkeit des Reagierens stoßen, gelangen wir zu dem gleichen Maß von Irrationalität wie bei jenen Naturvorgängen. In gleichem Maße aber, wie die Deutbarkeit abnimmt (und also die »Unberechenbarkeit« sich steigert), pflegen wir – und hier ergibt sich der Zusammenhang dieser Erörterungen mit unserem Problem – dem Handelnden die »Willensfreiheit« (im Sinn der »Freiheit des Handelns«)119 abzusprechen: es zeigt sich mit andern Worten schon hier, daß »Freiheit« des Handelns (wie immer der Begriff gedeutet werden möge) und Irrationalität des historischen Geschehens, wenn überhaupt in irgendeiner allgemeinen Beziehung, dann jedenfalls nicht in einem solchen Verhältnis gegenseitiger Bedingtheit durch einander stehen, daß Vorhandensein oder Steigerung des einen auch Steigerung des anderen bedeuten würde, sondern – wie sich immer deutlicher ergeben wird – gerade umgekehrt.
2. Unser kausales Bedürfnis verlangt nun aber auch, daß da, wo die Möglichkeit der »Deutung« prinzipiell vorliegt, sie vollzogen werde, d.h. die bloße Beziehung auf eine lediglich empirisch beobachtete noch so strenge Regel des Geschehens genügt uns bei der Interpretation menschlichen »Handelns« nicht. Wir verlangen die Interpretation auf den »Sinn« des Handelns hin. Wo dieser »Sinn« – wir lassen vorerst ununtersucht, welche Probleme dieser Begriff birgt – im Einzelfall unmittelbar evident feststellbar ist, da bleibt es uns gleichgültig, ob sich eine »Regel« des Geschehens formulieren läßt, die den konkreten Einzelfall umfaßt120. Und andrerseits kann die Formulierung einer solchen Regel, selbst wenn sie den Charakter strenger Gesetzmäßigkeit an sich tragen würde, niemals dahin führen, daß die Aufgabe »sinnvoller« Deutung durch die einfache Bezugnahme auf sie ersetzt werden könnte. Ja, noch mehr: solche »Gesetze« »bedeuten« uns bei der Interpretation des »Handelns« an sich noch gar nichts. Gesetzt, es gelänge irgendwie der strengste empirisch-statistische Nachweis, daß auf eine bestimmte Situation seitens aller ihr jemals ausgesetzt gewesenen Menschen immer und überall in, nach Art und Maß, genau der gleichen Weise reagiert worden sei und, sooft wir die Situation experimentell schaffen, noch immer reagiert werde, dergestalt also, daß diese Reaktion im wörtlichsten Sinn des Wortes »berechnet« werden könnte, – so würde das an sich die »Deutung« noch keinen Schritt weiterbringen; denn es würde ein solcher Nachweis, für sich allein, uns noch nicht im mindesten in die Lage versetzen, zu »verstehen«, »warum« überhaupt jemals und vollends, warum immer in jener Art reagiert worden sei. Wir würden solange dieses Verständnis nicht besitzen, als uns eben nicht auch die Möglichkeit »innerer« »Nachbildung«121 der Motivation in der Phantasie gegeben wäre: ohne diese würde der denkbar umfassendste empirisch-statistische Nachweis der Tatsache einer gesetzmäßig auftretenden Reaktion mithin hinter den Anforderungen, die wir an die Geschichte und die ihr in dieser Hinsicht verwandten »Geisteswissenschaften« – wir lassen es, wie gesagt, zunächst ganz dahingestellt, welche diese sind – stellen, der Erkenntnisqualität nach