»Tut mir leid, Herr Dr. Scheibler, aber wir geben den Jungen nicht her«, antwortete Kurt schließlich.
»Warum denn nicht?« fragte Gerrit heftiger, als er es eigentlich gewollt hatte. »Ihnen liegt an Rudi doch überhaupt nichts!«
»Woher wollen Sie das wissen?« konterte Kurt in ebenso heftigem Ton. »Rudi ist der Sohn meines verstorbenen Bruders! Wir lieben ihn, als wäre er unser eigenes Kind!«
Dr. Scheibler glaubte ihm kein Wort. Das Verhalten, das sowohl Christa als auch Kurt Rudi gegen-über an den Tag legten, sprach für sich. Warum weigerten sie sich aber dennoch so strikt, das Kind in gute Hände zu geben? War es wirklich – wie der Polizeibeamte vermutet hatte – das Pflichtbewußtsein dem verstorbenen Bruder gegenüber?
»Herr Gerlach…«, setzte Dr. Scheibler noch einmal an, doch Christa fiel ihm sofort ins Wort.
»Haben Sie nicht gehört, was mein Mann gesagt hat? Wir geben Rudi nicht her.« Sie zögerte kurz, dann fügte sie wenig glaubhaft hinzu: »Wir lieben ihn.«
»Ja, vor allem Sie«, entfuhr es Dr. Scheibler, doch im selben Moment wußte er, daß er damit einen Fehler begangen hatte. Spätestens jetzt hatte er überhaupt keine Chance mehr, die Gerlachs für seinen Vorschlag zu gewinnen.
»Sie sollten jetzt besser gehen«, erklärte Kurt da auch schon. »Und ich möchte nicht, daß Sie und Rudi sich noch einmal begegnen. Ihre Gesellschaft kann meines Erachtens nur einen schlechten Einfluß auf Rudi haben.«
Dr. Scheibler wußte, daß er einlenken mußte, wenn er überhaupt noch etwas für Rudi tun wollte.
»Was ich gesagt habe, tut mir leid«, erklärte er. »Ich wollte Ihnen keinesfalls zu nahe treten, aber es schmerzt mich einfach zu wissen, daß Rudi unglücklich ist, und ich denke, wir sollten miteinander und nicht gegeneinander arbeiten, damit sich das ändert.« Er schwieg einen Moment. »Bitte, versuchen Sie wenigstens, dem Jungen ein bißchen Liebe und Verständnis entgegenzubringen. Als Gegenleistung soll Rudi Ihnen versprechen, nicht mehr davonzulaufen. Und vielleicht sind Sie ja damit einverstanden, wenn ich den Jungen gelegentlich zu mir hole – an einem dienstfreien Wochenende beispielsweise.«
Wieder wechselten Kurt und Christa einen Blick. Dieser Vorschlag war nun wirklich verlockend, denn auf diese Weise wären sie Rudi wenigstens ab und zu mal los und bräuchten trotzdem nicht auf ihr monatliches Nebeneinkommen zu verzichten.
»Also schön«, meinte Kurt. »Sie können Rudi ab und zu sehen. Über den anderen Punkt muß nicht weiter diskutiert werden, weil wir dem Jungen ohnehin nur Liebe entgegenbringen.«
Dr. Scheibler konnte nur mit Mühe eine heftige Erwiderung unterdrücken, denn er wollte das, was er erreicht hatte, ja nicht wieder zunichte machen.
»Danke«, erklärte er, dann stand er auf, doch bevor er ging, wandte er sich Rudi noch einmal zu. »Du versprichst mir, daß du nicht mehr davonläufst, ja?«
Rudi senkte einen Augenblick den Kopf, dann sah er Dr. Scheibler mit seinen großen, blauen Augen an.
»Nein, Gerrit, versprechen kann ich dir das nicht«, antwortete er ehrlich. »Aber ich werde mich bemühen.«
Dr. Scheibler nickte ihm lächelnd zu, dann streichelte er zärtlich durch seinen blonden Wuschelkopf.
»Wir sehen uns bald wieder, mein Junge.«
*
Als Gunilla Heidenrath in Dr. Daniels Praxis kam, ahnte er sofort Schreckliches.
»Herr Doktor, ich bin schwanger.«
Ihre Worte kamen leise, so, als würde sich sich darüber schämen. Und dann brach sie auch schon in Tränen aus.
»Ich wollte es nicht«, schluchzte sie verzweifelt. »Ich spürte, daß es meine fruchtbaren Tage waren, aber Helmut…« Vor lauter Weinen konnte sie nicht weitersprechen.
Dr. Daniel stand auf, kam um seinen Schreibtisch herum und legte einen Arm tröstend um die Schultern der hilflos schluchzenden Frau.
»Ich weiß schon, Frau Heidenrath, gegen Ihren Mann ist wirk-
lich nur schwer anzukommen.« Er überlegte, was nun zu tun sei. »Weiß er schon von der Schwangerschaft?«
Gunilla schüttelte nur den Kopf.
»Dann sollten wir vielleicht an eine Abtreibung denken«, meinte Dr. Daniel. »Obwohl das gerade in Ihrem Fall sicher auch nicht ganz ungefährlich ist.«
»Nein, Herr Doktor!« wehrte Gunilla entschieden ab. »Sie dürfen das Baby nicht töten.« Wie beschützend legte sie beide Hände auf ihren Bauch. »Es ist doch jetzt schon mein Kind.«
»Das weiß ich«, entgegnete Dr. Daniel sehr ernst. »Und normalerweise bin ich mit einem Schwangerschaftsabbruch auch nicht so schnell bei der Hand, ganz im Gegenteil, aber in diesem Fall… Frau Heidenrath, denken Sie an Ihre fünf Mädchen. Wenn Sie darauf bestehen, dieses Baby zu bekommen, verurteilen Sie sich damit selbst zum Tod. Und was soll denn aus Ihren anderen Kindern werden?«
Gunilla vergrub ihr Gesicht in den Händen, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich kann es nicht abtreiben lassen. Das würde allem widersprechen, wonach ich bisher gelebt habe.«
*
»Robert, was ist denn los mit dir?« fragte Manon Carisi besorgt, als Dr. Daniel wie beinahe jeden Abend zu ihr kam.
Er seufzte tief auf. »Ach, Manon, ich weiß nicht mehr weiter. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich völlig ratlos, dabei wäre es gerade jetzt so dringend…« Er winkte ab. »Damit sollst du dich nicht belasten, Liebes. Du brauchst noch Erholung und…«
»Damit ist es ab morgen vorbei«, fiel Manon ihm ins Wort. »Ich bin der Meinung, daß Stefan mich jetzt lange genug vertreten hat – sehr gut sogar übrigens«, fügte sie lächelnd hinzu. »Dein Sohn wird mal ein erstklassiger Arzt.« Sie streichelte durch Dr. Daniels dichtes Haar. »Genau wie sein Vater.«
»Danke für die Blumen. Im Moment fühle ich mich allerdings eher wie ein Versager.« Erst jetzt wurde ihm bewußt, was Manon gerade gesagt hatte. »Augenblick mal… soll das etwa heißen, du willst morgen wieder anfangen zu arbeiten?«
Manon nickte strahlend. »Es wird langsam Zeit, daß ich mich bei meinen Patienten wieder sehen lasse. Außerdem halte ich es einfach nicht mehr länger aus. Zuviel Erholung ist nämlich auch nicht gut. Ich sehne mich richtig nach meiner Arbeit.«
Zärtlich nahm Dr. Daniel sie in den Arm. »Ich will ganz ehrlich sein – ich freue mich, dich wieder in meiner Nähe zu haben.« Er wurde ernst. »Hast du mit Professor
Thiersch darüber gesprochen?«
»Selbstverständlich, und er hält es auch für unbedenklich.« Sie grinste. »So hat er das natürlich nicht gesagt, wie du dir denken kannst.«
Dr. Daniel schmunzelte. »Ich nehme an, er wird sich etwa in dieser Art geäußert haben.« Er räusperte sich und versuchte dann die Stimme des Professors zu imitieren: »Ich habe Ihnen gesagt, daß Sie gesund sind, also wird es auch allmählich Zeit für Sie, wieder mit der Arbeit zu beginnen.«
Manon lachte. »Das klingt fast, als hättest du eine Abhöranlage in mein Telefon installiert. Du wirst es nicht glauben, Robert, aber das waren genau seine Worte.« Sie wurde wieder ernst und streichelte erneut durch Dr. Daniels Haar. »Was ist jetzt, Robert? Willst du mir nicht doch endlich erzählen, was dich schon seit Wochen so bedrückt?«
Dr. Daniel nickte. »Ja, Manon, vielleicht hast du recht. Ich sollte wirklich darüber sprechen.« Er atmete tief durch. »Es geht um eine Patientin von mir, zweiundvierzig Jahre alt und Mutter von fünf Kindern… Mädchen. Ihr Mann ist ein rücksichtsloser Klotz, der…«
»Der sich einen Sohn wünscht«, vollendete Manon voller Bitterkeit. »Du sprichst von Gunilla Heidenrath, nicht wahr?«
Dr.