»Warum kannst du mir diese Spritze nicht selbst geben, Gerrit? Bei dir hätte ich keine Angst.«
Dr. Scheibler seufzte. »Weil dein Onkel mir verboten hat, dich zu behandeln, und auch wenn es uns beiden nicht gefällt – er ist derjenige, der über dich bestimmen darf.«
»Ich werde davonlaufen«, beschloß Rudi kurzerhand.
»Nein, mein Junge, das wirst du nicht!« entgegnete Dr. Scheibler, und dabei wurde seine Stimme plötzlich sehr streng. »Ich verlasse mich darauf, daß du mir gehorchst. Du bist sehr krank, Rudi…«
»Ich habe gehört, was passiert ist.«
Mit diesen Worten eilte Stefanie Scheibler in diesem Augenblick ins Zimmer und an Rudis Bett, dann ergriff sie seine heiße Hand.
»Wie fühlst du dich, mein Kleiner?«
Tränen kullerten über Rudis Wangen. »Der Doktor hat mir weh getan, und Gerrit… er hat gerade geschimpft…«
»Nein, das habe ich nicht«, widersprach Dr. Scheibler. »Ich habe dir lediglich verboten, noch einmal davonzulaufen, und das aus gutem Grund.« Seine Stimme wurde eindringlich. »Rudi, versteh doch, Steffi und ich wollen dich adoptieren – jetzt mehr denn je. Aber mit deinem ständigen Ausreißen machst du alles nur noch viel schwieriger.«
»Ich halte es aber nicht mehr länger aus«, schluchzte Rudi verzweifelt.
Dr. Scheibler seufzte. »Ich weiß schon, mein Junge. Dabei ist die Situation so verfahren wie nie zuvor, aber das liegt hauptsächlich an mir.« Er sah seine Frau an und schilderte ihr, was alles vorgefallen war.
»Vielleicht sollte ich einmal versuchen, mit den Gerlachs zu sprechen«, schlug sie vor, doch Dr. Scheibler schüttelte nur den Kopf.
»Im Augenblick halte ich das für aussichtslos, Steffi«, meinte er. »Wir können wohl nichts anderes tun, als vorerst abzuwarten. Robert hat vielleicht recht. Wenn Rudi erst gesund ist, könnte sich die Situation wieder entschärfen.«
*
Gunilla Heidenrath bereitete gerade das Mittagessen zu, als sie plötzlich von einem entsetzlichen Schmerz überfallen wurde.
»Helmut«, stieß sie hervor, dabei wußte sie genau, daß ihr Mann nicht zu Hause war. Vor einer Stunde war er weggefahren – und sie hatte keine Ahnung, wohin.
»Mami, was ist denn?« fragte die vierzehnjährige Gitti erschrocken, dann entdeckte sie das Blut, das auf den Boden tropfte. »Du blutest ja! Mami! Du blutest!«
Im selben Moment konnte Gunilla den Schmerz deuten. So war es auch damals gewesen, als sie bei drei Schwangerschaften die Babys verloren hatte. Nur heute schienen ihr die Schmerzen noch unerträglicher zu sein. Trotzdem zwang sie sich dazu, Ruhe in ihre Gedanken zu bringen. Sie durfte jetzt nicht durchdrehen – damit wäre niemandem geholfen.
»Das ist nicht so schlimm, Gitti«, versuchte sie ihre Tochter zu beruhigen. »Du mußt jetzt nur Dr. Daniel anrufen. Die Nummer steht im Telefonregister.«
»Aber, Mami, heute ist doch Samstag«, wandte Gitti ein. »Da ist Dr. Daniel bestimmt nicht in seiner Praxis.«
Wieder arbeitete Gunillas Gehirn fieberhaft, aber noch bevor sie einen Entschluß fassen konnte, klingelte es. Nina, die inzwischen auch schon mitbekommen hatte, daß mit ihrer Mutter etwas nicht in Ordnung war, lief zur Tür, um zu öffnen.
»Hallo! Wer bist du denn?« erklang gleich darauf eine sympathische männliche Stimme.
»Ich heiße Nina Heidenrath«, antwortete das Mädchen sofort.
»Nina«, wiederholte der Mann, und im selben Moment erkannte Gunilla seine Stimme.
»Franz!« rief sie. »Franz! Gott sei Dank!«
Franz Baumgartner lief an Nina vorbei in die Küche, dann erfaßte er die Lage mit einem Blick. Ohne zu zögern nahm er Gunilla auf die Arme, trug sie zu seinem Auto und legte sie vorsichtig auf die Rückbank, dann sah er zu Gitti und Nina, die ihm gefolgt waren, zurück.
»Ich bringe eure Mutter jetzt ins Krankenhaus«, erklärte er hastig. »Danach komme ich wieder her und hole auch euch.«
So schnell es die gewundenen Straßen Steinhausens erlaubten, fuhr Franz zur Waldsee-Klinik, dann sprang er aus dem Auto und betrat im Laufschritt die Eingangshalle. Der erste, der ihm begegnete, war Chefarzt Dr. Metzler.
»Ich brauche Dr. Daniel!« stieß Franz hervor. »Schnell! Die Frau in meinem Auto hat Unterleibsblutungen!«
Dr. Metzler rief zwei Pfleger herbei und ordnete an, daß die Patientin in die Gynäkologie gebracht werden solle, dann rief er persönlich bei Dr. Daniel an, und der Arzt war knapp fünf Minuten später zur Stelle. Als er Franz sah, wußte er sofort Bescheid.
»Mir scheint, Sie haben die seltene Begabung, immer dann bei Frau Heidenrath zu sein, wenn sie in Lebensgefahr gerät und Ihrer Hilfe dringend bedarf«, meinte er, während er in die Gynäkologie eilte.
Franz folgte ihm ein paar Schritte. »Ich muß die Kinder noch holen. Sie sind allein zu Hause.«
Dr. Daniel nickte knapp, dann verschwand er in dem Raum, wo sich Gunilla inzwischen auf der Untersuchungsliege befand. Sie hatte die Beine angezogen und weinte vor Schmerzen.
»Ganz ruhig, Frau Heidenrath«, erklärte Dr. Daniel in der ihm eigenen Art, die bei den Patienten so großes Vertrauen weckte.
»Eine Fehlgeburt«, schluchzte Gunilla. »Herr Doktor, ich verliere mein Baby.«
Dr. Daniel nickte nur, dann begann er sehr vorsichtig mit der Untersuchung. Es war bereits zu spät, um die Fehlgeburt noch aufzuhalten, doch darüber war Dr. Daniel in diesem Fall sogar fast froh. Im Grunde rettete diese Fehlgeburt Gunilla das Leben. Der Blutverlust war allerdings schon wieder bedenklich hoch.
»Brauchst du mich?« fragte Dr. Metzler und sah zur Tür herein.
»Ja, Wolfgang«, antwortete Dr. Daniel rasch. »Wie gut bist du als Anästhesist?«
»Vergiß es«, entgegnete Dr. Metzler nur. »Ich bin kein Allroundtalent. Aber Jeff ist im Haus. Ich hole ihn sofort her.«
Bis Dr. Jeffrey Parker im kleinen Operationssaal der Gynäkologie erschien, hatte Dr. Daniel Gunilla persönlich hinübergebracht.
»Leiten Sie die Narkose ein, Jeff«, ordnete er an. »Ich muß eine Ausschabung vornehmen.«
Es war ein schwieriges Stück Arbeit, denn nicht einmal die Kürettage konnte Gunillas Blutung stoppen. Dr. Daniel mußte der Patientin erneut Ergometrin spritzen und auf Bluttransfusionen zurückgreifen.
»Mein lieber Mann, da haben Sie aber was geleistet«, meinte Dr. Parker anerkennend, als es Dr. Daniel endlich gelungen war, die Blutung zum Stillstand zu bringen. Völlig erschöpft lehnte er an der Wand im Waschraum.
»Das war knapp«, meinte Dr. Daniel, dann stieg Wut in ihm auf. »Und das alles nur, weil ihr Mann um jeden Preis einen Sohn haben will. Er riskiert absichtlich das Leben seiner Frau, nur um sich seinen Wunsch zu erfüllen.«
Fassungslos schüttelte Dr. Parker den Kopf. »Das ist doch regelrecht abartig.«
Dr. Daniel nickte. »Fünf Kinder hat diese Frau schon zur Welt gebracht, und das war eben ihre vierte Fehlgeburt.«
Entsetzt starrte Dr. Parker ihn an. »Neun Schwangerschaften bei einer Risikopatientin? Ja, Himmel, ist dieser Mann denn noch zu retten?«
»Ich fürchte, nein.« Er blickte vor sich hin. »Diesmal muß sie einer Sterilisation zustimmen. Ich will nicht dabei sein, wenn diese Frau stirbt – das wird sie bei der nächsten Schwangerschaft zwangsläufig. Eine zehnte Schwangerschaft wäre ihr Todesurteil.«
*
Nervös ging Franz Baumgartner auf dem Flur hin und her. Er hielt die kleine Helene im Arm, während Kristin auf wackligen Beinchen hinter ihm herlief und Barby sich zwischen Gitti und Nina auf die Bank gedrängt