»Ich glaube nicht, daß es nötig ist, ihn zu bestrafen«, mischte sich Dr. Scheibler in ruhigem Ton ein.
Christa fuhr herum. »Und ich glaube nicht, daß Sie das irgend etwas angeht.« Dann nahm sie Rudi mit hartem Griff bei der Hand und wollte ihn hinter sich her nach draußen ziehen.
»Einen Augenblick noch«, hielt Dr. Scheibler sie erneut zurück. »Ich will mich ganz bestimmt nicht in Ihre Angelegenheiten einmischen, Frau Gerlach, aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß Sie an Rudi kein allzu großes Interesse haben.«
»Was erlauben Sie sich…«, brauste Christa auf, doch Dr. Scheibler fiel ihr ins Wort.
»Ich will damit nur zum Ausdruck bringen, daß… meine Frau und ich würden den Jungen zu uns nehmen. Wir würden ihn sogar adoptieren, wenn Sie und Ihr Mann damit einverstanden wären.«
Christa reckte den Kopf hoch. »Nein, das sind wir nicht! Rudi gehört zur Familie, und wir werden ihn ganz bestimmt nicht hergeben.«
Damit zog sie den widerstrebenden Jungen hinter sich her. Rudi sah hilfesuchend zu Gerrit zurück, bis die Tür hinter ihm und Christa ins Schloß gefallen war. Unwillkürlich ballte Dr. Scheibler die Hände zu Fäusten.
»Warum kann man gegen solche Leute nichts unternehmen?« stieß er hervor.
Der Beamte, der jetzt seinen Dienst beendete, zuckte die Schultern. »Weil sie nichts Verbotenes tun. Rudi wird für sein Ausreißen bestraft, aber keiner von den beiden mißhandelt das Kind. Und daß er nicht geliebt wird…« Er zuckte die Schultern. »Dagegen gibt es nun mal kein Gesetz.«
»Ich weiß«, erklärte Dr. Scheibler resignierend. »Aber… er ist so ein liebenswerter Junge.« Und er dachte daran, wie selig der Kleine in seinen Armen geschlafen hatte – in der Gewißheit, beschützt und geliebt zu werden.
»Wem sagen Sie das?« Der Beamte seufzte. »Ich habe ja selbst schon mal angeklingelt, ob ich den Kleinen nicht zu mir nehmen könnte. Meine Frau und ich wünschten uns immer Kinder, aber es wollte leider nicht damit klappen.« Er winkte ab. »Ich habe dieselbe Antwort bekommen wie Sie. Die Gerlachs geben das Kind nicht her, und damit sind sie leider juristisch im Recht. Immerhin haben sie das Sorgerecht für den Jungen, und das kann man ihnen wohl nicht so einfach streitig machen.«
Zusammen verließen die beiden Männer die Polizeistation, verabschiedeten sich voneinander und stiegen in ihre Autos. Der Beamte machte sich auf den Weg nach Hause, während Dr. Scheibler zur Klinik fuhr. Doch den ganzen Tag über schaffte er es nicht, den kleinen Rudi aus seinen Gedanken zu verbannen.
Schließlich hielt er es nicht mehr aus und suchte Dr. Daniel auf, um ihm die ganze Geschichte zu erzählen.
»Und das Schlimmste ist, daß ich überhaupt nichts für ihn tun kann«, schloß er. »Ich habe versucht, seine Tante auf eine Adoption anzusprechen, doch sie hat sofort abgeblockt und behauptet, der Junge würde zur Familie gehören.« Er seufzte tief auf. »Dabei sieht man nur zu deutlich, daß er ihr bloß im Weg ist und sie nicht interessiert.«
»Trotzdem ist das Recht auf ihrer Seite«, wandte Dr. Daniel ein. »Solange diese beiden den Jungen nicht mißhandeln oder ihn sonstwie grob vernachlässigen, können Sie nichts dagegen unternehmen, Gerrit.« Impulsiv legte er dem jungen Mann eine Hand auf den Arm. »Ich weiß schon, es ist hart, so etwas mitansehen zu müssen, und wahrscheinlich wird Ihnen der Junge noch lange im Kopf herumgeistern, aber letzten Endes werden Sie einsehen müssen, daß Sie in diesem Falle machtlos sind.«
Dr. Scheibler seufzte wieder. »Ich weiß.«
»Sie müssen versuchen, den Jungen zu vergessen«, riet ihm Dr. Daniel. »Das wird Ihnen sicher nicht leichtfallen, aber es nützt niemandem, wenn Sie sich in der Sorge um den Kleinen nur selbst aufreiben. Trösten Sie sich mit dem Gedanken, daß es eine Menge Kinder gibt, die unter noch viel ärgeren Umständen als Rudi aufwachsen müssen.«
»Ein schwacher Trost«, entgegnete Dr. Scheibler deprimiert. »Und was diese vielen lieblosen Jahre bei einem Kind bewirken können…«
Dr. Daniel seufzte nun ebenfalls. »Es gibt viele Möglichkeiten, was aus dem Jungen werden könnte. Vielleicht wird er nach diesen schlechten Erfahrungen seinen eigenen Kindern einmal ein besonders liebevoller Vater sein. Ebensogut könnte er irgendwann unter die Räder kommen – im wörtlichen oder auch im übertragenen Sinn. Aber daran dürfen Sie nicht denken, Gerrit. Sie haben nur Ihre Pflicht getan, als sie den Jungen zur Polizei brachten.«
Dr. Scheibler wußte, daß Dr. Daniel im Grunde recht hatte. Er hatte seine Pflicht getan, und nun mußte er Rudi vergessen, doch im Augenblick wußte er noch nicht, wie er das machen sollte. Das schmale Gesichtchen und die traurigen Augen verfolgten ihn praktisch auf Schritt und Tritt.
*
»Gunilla? Bist du es wirklich?«
Sie sah den attraktiven Mann vor sich an, zögerte einen Moment und nickte dann schließlich.
»Ja, Franz, ich bin es«, flüsterte sie.
Um Franz Baumgartens Mund zuckte es ein wenig, denn er erinnerte sich nur zu gut an das hübsche junge Mädchen, in das er sich vor beinahe zwanzig Jahren so sehr verliebt hatte, und jetzt stand vor ihm eine Frau mit verhärmtem Gesicht und glanzlosen Augen. Ihr einst sanft gewelltes, langes Haar hatte sie streng nach hinten gekämmt und mit einer breiten Spange zusammengefaßt, was sie älter aussehen ließ, als sie es in Wirklichkeit war.
»Mami, ich habe Hunger«, begann das etwa fünfjährige Mädchen an ihrer Hand in diesem Moment zu quengeln.
»Ja, Barby, wir gehen gleich nach Hause«, versuchte Gunilla das Kind zu besänftigen, dann sah sie Franz wieder an. »Ich muß weiter. Mein Mann kommt um fünf Uhr nach Hause, dann will er etwas zu essen bekommen.«
Unwillkürlich ballte Franz die Fäuste. Wie gut er sich noch an den blendend aussehenden Helmut Heidenrath erinnerte! Mit seinem Charme und seinen verlogenen Komplimenten hatte er die hübsche Gunilla damals für sich gewonnen.
Daran dachte auch Gunilla in diesem Moment. Welch einen Fehler sie doch begangen hatte! In einem Rausch der Verzauberung hatte sie ein stilles, wärmendes Feuer gegen die heiße Glut der Leidenschaft getauscht, und nun mußte sie ihren damaligen Fehler gleich tausenfach büßen.
»War nett, dich zu sehen, Franz«, murmelte sie, dann wollte sie rasch weiter, doch das heftige Schwindelgefühl, das sie schon den ganzen Tag immer wieder heimgesucht hatte, ließ sie plötzlich taumeln, und noch ehe Franz mit einer Hand helfend zugreifen konnte, war Gunilla schon zu Boden gestürzt.
»Mami!«
Das kleine Mädchen war den Tränen nahe, während die etwa Einjährige, die in einem speziellen Sitz auf dem Kinderwagen saß, kein Interesse an dem zeigte, was da um sie herum vorging. Sie beschäftigte sich angelegentlich mit den knallroten Knöpfen an ihrer Latzhose.
»Gunilla, um Himmels willen…«, begann Franz, doch im selben Moment sah er den roten Fleck, der sich auf ihrem Kleid ausbreitete.
»Schnell!« rief er verzweifelt. »Einen Arzt!«
Amelie Hauser, die Besitzerin des Gemischtwarenladens, die ja schon von Berufs wegen recht neugierig war, erschien als erste auf der Straße, dann lief sie rasch in ihr Geschäft zurück und rief sofort in der Waldsee-Klinik an. Kaum zwei Minuten später war der Krankenwagen da und transportierte Gunilla samt ihrer Kinder in die Klinik. Fast gleichzeitig mit ihr trafen Dr. Daniel und auch Franz Baumgartner ein.
»Wer sind Sie?« wollte Dr. Daniel wissen, während er bereits hinter der fahrbaren Trage herging, auf der Gunilla in die Gynäkologie hinübergefahren wurde.
»Ein… ein Freund«, stammelte Franz, doch Dr. Daniel spürte instinktiv, daß hinter seiner Besorgnis weit mehr als nur flüchtige Freundschaft steckte.
»Helfen Sie ihr!« rief Franz dem Arzt