»Ist denn die Krämern gut zu Dir?«
Wiesing entzog Agathe ihre Hand und wandte den Kopf nach der Mauer.
Beide Mädchen schwiegen.
Draußen schlürfte ein Schritt, die Tür wurde aufgeklinkt, die Krämern drängte sich hastig herein, mit ihr das hinkende Kind mit dem schmutzigen Säugling.
»Ne aber, das gnädige Lämmchen haben sich herbemüht! Ne aber, Luise, so ’ne Ehre! Allens habe ich nu besorgt, en’ Sarg für das Engelchen, und der Herr Pastor will dazu beten – es liegt schon auf ’n Leichenhause. – Hier, alles is ufgeschrieben – kein Pfennig zu viel. Morgen soll Dein Kleenes in die Erde kommen. Ach – so ’n Elend. Ne, ich sage jo.«
Sie schneuzte sich in die blaue Schürze.
Ein leises Wimmern drang von dem Strohsack her.
»Soll ich Dir einen schönen Kranz bringen für Dein Kindchen?« flüsterte Agathe sich zu dem kranken Mädchen niederbeugend.
Wiesing öffnete die geschlossenen Lider. »Ach, Frölen!«
»Ja, morgen bringe ich ihn. Verlass Dich darauf.«
Sie gab der Alten Geld zu Suppe und Wein.
Auf dem Rückwege holte sie Blumen. Heimlich in ihrer Stube flocht sie den Kranz. Sie hatte ein schweres, gemartertes Gewissen.
Am Nachmittag des folgenden Tages, als sie eben gehen wollte, kam Besuch. Sie wurde bis um fünf Uhr aufgehalten und musste eine Menge Vorwände suchen, um nur fortzukommen.
Eilig schritt sie durch die von einem harten scharfen Ostwind durchblasenen Straßen. Wie früh es schon dunkel wurde.
Als sie an der Kneipe im Erdgeschoss des Hauses vorüber wollte, erschienen ein paar Männerköpfe in der Tür. »Fräulein, kommen Sie rein!« schrie man ihr zu.
Atemlos lief sie die Treppen hinauf. Oben nahm sie den Kranz aus der Tasche und legte ihn vor Wiesing aufs Bett. Die Kranke sagte nichts, leise tasteten ihre Finger über die bunten Blumen. In den starren blassen Augen sammelte sich ein feuchter Glanz, langsam liefen zwei Tropfen über die grauen Wangen.
Die Krämern kam, sobald sie Agathe hörte. Und gleich nachher polterte auch das hinkende Kind herein. Mit einem alten, neidischen Lachen stellte es sich vor Agathe hin und sagte:
»En schenen Gruß von die Herren unten, und das Freilein sollte mal runter kommen und Gänsebraten essen.«
Agathe verstand das Mädchen zuerst gar nicht. Die Krämern musste das Anerbieten erklären. »Ne Freilein, sag’ ich’s nich! Jede gute Tat bringt doch gleich ihren Lohn! Dafür, dass Sie die Luise besuchen, schenkt der liebe Gott Ihnen nu ooch gleich den Gänsebraten!«
Agathe stand erstarrt vor dieser naiven Gemeinheit. Hier hatte Wiesing gelebt – diese vier Jahre hindurch –.
Wie sollte sie unten an der schauerlichen Tür vorübergelangen? Ihr Vater hatte doch recht, ihr die Armenbesuche aus eigene Hand zu verbieten. Furcht und Hoffnungslosigkeit senkte sich wie ein Nebel über ihr Denken.
»Soll ich nicht an Deine Mutter schreiben, dass sie Dich nach Haus holt?« fragte sie unschlüssig.
Wiesing schüttelte ganz wenig den Kopf. Sie begann zu husten, versuchte vergebens, sich aufzurichten, um Luft zu bekommen. Agathe fasste sie und hielt sie – so hatte auch sie selbst einmal geröchelt und gerungen … Was war alles für sie geschehen!
»Wiesing – ich will Dir einen Doktor schicken …«
O – der entsetzliche Geruch in der Kammer! Und die Eiskälte … Wie schmutzig das Bett war.
»Kein Doktor!« stammelte die Kranke, und ihre Hände schlugen fieberisch unruhig durch die Luft.
Agathe wollte doch ihren Hausarzt bitten, nach dem Mädchen zu sehen.
Die Krämern versuchte diensteifrig, sie hinunterzubegleiten, aber Agathe wies sie steif und hochmütig ab.
Auf der Treppe fiel ihr der Mann mit dem Gänsebraten wieder ein.
Er stand wartend an der Glastür und lachte laut, als er sie sah. Agathe wurde schwindelig vor Schrecken.
»Nicht so eilig!« brüllte er und fasste nach ihrem Arm. Sie riss sich los und stürzte auf die Straße. Ein dröhnendes Gelächter scholl ihr nach. Sie lief mehr, als sie ging – nur fort – fort aus dieser Gegend.
Mit betäubenden Kopfschmerzen kam sie nach Haus.
Mehrere Tage lang konnte sie sich nicht entschließen, Wiesing wieder zu besuchen. Sie war krank und elend. Sie konnte ihr ja auch nicht helfen. Mit einer schauerlichen Klarheit zeigte ihr die Gänsebraten-Geschichte plötzlich die Bilder aus dem Leben der schmutzigen Tiefe, in die das unglückliche Mädchen gestürzt war.
Sie wagte nicht mehr, ihrem Hausarzt Mitteilung zu machen – als habe sie nur allein Kenntnis von der grausigen Welt dort erhalten und dürfe niemand – niemand davon sagen.
Aber es ließ ihr keine Ruhe. Sie musste das Mädchen aus der Umgebung retten – sie musste wenigstens dafür sorgen, dass sie zu essen bekam. Ging sie des Morgens früh, so saßen wohl auch keine Männer in der Kneipe, von denen sie belästigt werden konnte.
Diesmal trat ihr aus der Tür, die der Wohnung der Krämern gegenüberlag, eine Frau entgegen. Sie sah sauber aus, wie eine ordentliche Arbeiterfrau, deshalb blieb Agathe höflich stehen, als sie sie anredete.
»Fräulein – wollen Sie denn wieder zu der da?« fragte sie.
»Ja. Kennen Sie Luise? Sie scheint mir sehr krank.«
»Gestern haben sie sie fortgeschafft.«
»Fort –? Wohin?« fragte Agathe.
»Na – ins Leichenhaus.«
Agathe schwieg bestürzt.
»Mein Mann sagt, das Fräulein weiß gewiss nicht, was das für eine war?«
Agathe seufzte.
»Ach, liebe Frau, sie hat doch so viel Kummer gehabt.«
»Das will ich ja nich gesagt haben – nu wenn die Krämern so ’n Mädel in die Hände kriegt …«
»Meinen Sie, dass die Krämern nicht gut zu ihr war?«
»Die –? Das alte Vieh? Fräulein … die löffelte Ihnen die Suppe hier draußen – na – und den Wein, den soff sie gleich unten in der Destille. Ne – davon hat das Mädchen nich’n Droppen geschluckt. Ja – wenn die reichen Leute man wüssten, wem sie ihr