Ihr Vater saß hinter der Zeitung. Sein Gesicht, als er es flüchtig bei ihrem Morgengruß erhob, war ernst und sorgenvoll. Er antwortete ihr nicht.
Agathe ging ihrer Mutter nach.
»Was ist mit Papa? Freut er sich nicht?«
Ihre Mutter hatte geweint.
»Liebes Kind, Du kannst nicht von ihm verlangen, dass er Dich gern hergibt. Du bist doch unser Sonnenschein. Er ist … ich dachte … er äußerte sich immer so günstig über Herrn Raikendorf. Nun mit einem Mal … aber das wird sich schon geben! – Weißt Du, Agathe, es ist ihm sehr unangenehm, dass Du die Äußerung über mein Vermögen getan hast.«
»Ja aber – ich musste doch …«
»Ich habe mich nie um die Verwaltung bekümmert. Das versteht Papa ja viel besser. Aber Papa sagt, wir hätten Verluste gehabt. – Lass nur gut sein! Wir richten uns schon ein. Wir nehmen eine kleinere Wohnung, und wenn Du fort bist, brauchen wir auch nur ein Mädchen. Ich habe es Papa schon vorgerechnet. Dein Glück steht uns doch am höchsten.«
Die Unterredung zwischen dem Regierungsrat und Raikendorf dauerte sehr lange. Agathe konnte einen gereizten Ton in der Stimme ihres Vaters vernehmen. Worte verstand sie nicht. Wieder wurde hinter verschlossenen Türen über ihr Schicksal verhandelt – wie damals, als die Ärzte berieten, ob sie an einer langwierigen Krankheit zu Grunde gehen oder gesund werden würde. Und man erlaubte ihr nicht, mitzusprechen, zu fragen, das Für und Wieder zu hören. Geduldig musste sie sitzen, die Hände im Schoß, und warten, was über sie beschlossen wurde.
Mein Gott, mein Gott, erbarme Dich doch!
Sie wendete sich nicht an den Heiland – sie fürchtete ihn – er forderte Entsagung und Kreuztragen. Instinktiv drängte es sie zu Gott dem Vater, dem Schöpfer und Erhalter alles Lebens.
Immer war ihr, als müsse sie jetzt, wie in jener anderen fürchterlichen Stunde, das befreiende Lachen hören …
Eine Tür wurde geöffnet. Leise, vorsichtig sprachen Papa und Raikendorf miteinander – so dumpf … als wäre etwas gestorben. – Ging er … ohne zu ihr zu kommen?
Sie hielt sich am Fensterkreuz und starrte auf die Straße. Raikendorf trat aus der Tür, und ohne emporzublicken, ging er langsam fort.
»Mama!« schrie Agathe heiser auf, »geh doch, sieh doch!«
Ihr Vater kam herein. Als er Agathe ansah, das angstverzerrte kleine Gesicht, winkte er seiner Frau. Er konnte es ihr nicht sagen. Die Mutter fand wohl bessere Worte. Sie musste ihr ja auch schon früher einmal den ersten Schlag beibringen.
»… Du bist ein verständiges Mädchen … Papa hat es uns bisher verschwiegen … er meinte, wir würden die Diskretion nicht gewahrt haben – wegen Eugenie. Walter hatte Schulden – gespielt – ehe er sich verlobte. Papa musste sie bezahlen, sonst … wegen seiner Stellung … Er hat auch so strenge Ehrbegriffe. Wir haben viel verbraucht – von meinem Vermögen ist nichts mehr da. Er hat mir den Kummer ersparen wollen … Mein gutes, verständiges Mädchen …«
Frau Heidling hielt Agathes Hand und streichelte sie immerfort, als könne sie ihr damit das zuckende Herz in magnetischen Schlaf streicheln.
Sie hatte eine Angst um Agathes Gesundheit … Und beinahe feige, hinterlistig, die Schuld von ihrem Manne abzuwälzen, begann sie: »Wenn Dich Raikendorf wirklich lieb gehabt hätte …«
»Mama!« schrie Agathe empört heraus, »er kann doch nicht! Er hat auch Schulden zu bezahlen! Er ist ehrlich gegen mich gewesen!«
Sie riss ihre Hand aus der ihrer Mutter und ging auf ihr Zimmer.
*
Am Abend aßen Walter und Eugenie bei den Eltern. Sie wollten in den nächsten Tagen nach Heringsdorf reisen. Es sollte das letzte Beisammensein werden. Der Regierungsrat wünschte nicht, dass seine Frau ihnen absagte.
»Dadurch wird die Sache nur herumgesprochen. Es schadet dem Mädchen nicht, wenn sie sich zusammennimmt.«
»– – Höre mal, Agathe, was ist Dir denn in die Milch gefallen?« fragte Walter bei Tisch. »Du machst ja eine höchst sentimentale Jammermiene! Hat Dich Dein Landrat geärgert?«
»Lass Deine Schwester in Ruhe, sie hat Kopfweh«, befahl sein Vater ärgerlich.
Agathe überfiel ein Zittern, ihr ganzes Gesicht verzog sich zu einer erschreckenden Grimasse. Sie stand auf und ging eilig hinaus: wäre sie geblieben, so hätte sie sich auf ihren Bruder gestürzt – sie fühlte plötzlich etwas wie eine innere wilde, schreckliche Kraft, die sich aus Fesseln losrang und nicht mehr zu halten war.
»Da hört doch aber manches auf!« rief Walter. »Nicht mal einen harmlosen Spaß kann man noch mit ihr machen! So ein albernes, empfindliches Frauenzimmer!«
»Du drückst Dich recht hart aus«, sagte seine Mutter beklommen. »Agathe hat auch ihr Teil zu tragen.«
»Aber Mama, unausstehlich reizbar ist sie wirklich«, sagte Eugenie.
»Was hat sie denn zu tragen«, fiel Walter ein. »Sie sollte Gott danken, dass es ihr so gut geht. Was denn? Unsereins hat seinen Dienstärger, die Plage mit den Rekruten und die Schinderei von den Vorgesetzten. Dagegen so ein junges Mädchen … Nichts auf der ganzen weiten Welt zu tun, als sich zu putzen und vergnügt auszusehen … Alte Jungfernschrullen, sage ich.«
»Schließen wir mal die Augen, ist doch niemand da, um für sie zu sorgen«, klagte Frau Heidling in einem dürftigen, jämmerlichen Ton.
Ihr Mann warf ihr einen strengen Blick zu. Es verletzte seinen Stolz, mit Walter und seiner reichen Frau von dieser Geschichte zu reden.
»Erstens hat es mit dem Sterben noch lange Zeit«, begann der junge Offizier, »und dann hat sie doch uns.«
»Ja – nicht wahr, Walter, Du versprichst mir, dass Du Deine Schwester nie verlässt!«
»Aber selbstverständlich, Mama!« Diese unnötige Feierlichkeit jetzt plötzlich zwischen Salat und Rührei – was die Frauen doch alles schwer nehmen. Na, Eugenie hatte Gott sei Dank keine Nerven. »Agathe kommt natürlich zu uns. Nicht wahr, Frauchen?«
»Sie kann ja mit den Kindern spazieren gehen, wenn sie sich nützlich machen will – da sparen wir ein Fräulein«, sagte Eugenie leichthin.
»Siehst Du, Mama«, schloss Walter befriedigt das Gespräch, »sie findet schon Arbeit bei uns. Wenn wir erst das kleine Mädchen zum Jungen haben … Na, gib