Es tat nicht Not, seine Stimmung noch mehr zu verdüstern. Er war ohnehin gereizt genug. Kein Wunder! Wie hatte er sich abgearbeitet, bis tief in die Nacht über den Akten gesessen, um dem Staat zu dienen. Nun warf der ihn plötzlich über Bord wie ein lästiges, überflüssiges Möbel – den kräftigen Mann, der jetzt mit seiner Zeit nichts anzufangen wusste, als in allen Zimmern herumzugehen und zu suchen, wo er etwas zu tadeln fände. Was hatte schließlich die unaufhörliche Angst, nirgends anzustoßen, nicht oben und nicht unten, nicht rechts und nicht links, dem armen Papa genützt?
Aber um Gottes willen! wenn Agathe das dem Papa einmal vorgehalten hätte … Das Gesicht, das sie da zu sehen bekommen haben würde!
Die ganze Welt war vollgestopft mit Heiligtümern, an die man nicht rühren durfte, wie Großmama ihr Nippesschrank, dessen Inhalt Agathe als Kind ehrfürchtig durch die Glasscheiben betrachten durfte. – Sie wurde von lauter Gedanken gequält, über die sie sich Vorwürfe machen musste. Es gährte ein fortwährender Aufruhr in ihr gegen jedes Wort, das die Eltern sprachen. So lange man wartete und immer wartete, so lange morgen vielleicht das neue Leben für uns selbst anbrechen konnte – so lange war es leicht gewesen, Geduld zu haben. Aber nun man sah, dass das neue Leben niemals kommen würde – dass man sich mit gegebenen Verhältnissen einrichten musste, so gut es ging – nun war es fast nicht mehr zu ertragen, immer noch als ein liebes unverständiges Kind behandelt zu werden, über dessen Meinungen man lächelte und scherzte, oder das man unterwies und erzog.
Sie musste sehr viel Geschicklichkeit aufwenden, damit Mama nicht merkte, dass sie tatsächlich den Haushalt führte – sie musste fortwährend lange Konferenzen über die einfachsten Dinge mit ihr führen, weil nur so Mama die Überzeugung behielt, sie regiere selbst und Agathe werde von ihr angeleitet. Wünsche, Bedürfnisse und Launen der drei alten Leute – eigentlich waren es vier, denn auch Dorte war alt und hatte Launen – mussten erfüllt werden. Wenn sie sich direkt widersprachen, so musste man doch jedem anscheinend den Willen tun oder ihn auf eine feine, nette Weise zu befriedigen suchen.
Papa wurde böse, sobald der geringste Angriff auf seinen Komfort und auf den vornehmen Anstrich der Haushaltung gemacht wurde. Onkel Gustav hatte allerlei Restaurant-Gewohnheiten und war schwer zu überzeugen, dass die in der beschränkten Wirtschaft große Opfer kosteten. Und Mama verfiel mit ihrer Knauserigkeit beinahe ins Krankhafte. Traf sie mit Frau Wutrow zusammen, so ließ sie sich von der immer neue Sparsamkeitsrezepte mitteilen. Bei Wutrows wurde für die Näherinnen Kartoffelbrei unter die Butter gemischt. Das wollte die Rätin auch einführen. Agathe hatte einen ordentlichen Zank mit ihr, weil sie sich vor den fremden Mädchen schämte. Neuerdings verlangte Mama, dass der Teppich im Wohnzimmer, um seine Farben länger frisch zu halten, alle Abend mit einer weichen Bürste abgekehrt und zusammengerollt werde. Frau Heidling wollte es selbst besorgen, um ihrer Tochter ein gutes Beispiel der Demut zu geben. Das konnte Agathe nicht mit ansehen. Unglücklicherweise kam Eugenie dazu, als sie mit den Knien auf der Erde herumrutschte, und machte moquante Bemerkungen.
Sie brauchte so etwas freilich nicht zu tun – – hatte ihre Mutter dergleichen Gelüste, so war das ein Privat-Vergnügen, das Eugenie weiter nicht störte. Die jungen Heidlings hielten einen Burschen, die Köchin, das Hausmädchen und das Fräulein für den kleinen Wolf. Der alte Wutrow musste zahlen.
»Weißt Du – ich, als Offiziersfrau …« sagte Eugenie und bekam auf diese Weise alles, was sie wünschte.
Jeden Abend weinte Agathe ein paar heimliche Tränen auf den Teppich – sie fand es so mesquin und völlig unnötig und unpraktisch, ihn fortwährend zusammenzurollen und wieder auseinanderzubreiten.
O war das Leben langweilig – langweilig – langweilig, in dieser Fülle von zweckloser Arbeit!
Wenigstens verschonte man sie jetzt mit den Bällen. Es lud sie einfach niemand mehr ein. Aber die zwei oder drei Diners, zu denen sie noch gebeten wurde, waren auch gerade keine berauschenden Vergnügungen.
Und der Verkehr mit den Freundinnen – denen, die gleich ihr unverheiratet geblieben waren? In dem Augenblick, wo sie diese oder jene Bekannte besuchen wollte, ergriff sie oft ein solcher Widerwille, dass sie sich nicht entschließen konnte, hinzugehen.
Sie durfte ja doch kein Wort von dem reden, was sie dachte. Sie hatte beständig ein böses Gewissen. Wenn jemand geahnt hätte, was das feine, ernste, gesetzte Fräulein Heidling für Stunden durchmachte! Einmal sich aussprechen – ja, das musste eine Erleichterung sein. Hören, wie es den anderen erging, wie sie sich durchhalfen, ob sie resigniert waren oder traurig – ob sie ihr Los tapfer oder verzagt trugen …
Sonderbar – als kleine Schulmädel hatten die Freundinnen sich in die Ohren getuschelt, was sie von den Geheimnissen des Lebens, die man vor ihnen verbarg, nur herauskriegen konnten. – Als naseweise Backfische unterhielten sie sich ganz frech und vergnügt von allem Möglichen, und jede steuerte aus dem Schatz ihrer Kenntnisse bei. Nun sie achtundzwanzig bis dreißig Jahre über diese Erde gewandelt waren und keine von ihnen doch das Unglück hatte, blind oder taub geboren zu sein – nun hatten sie alle ihre Erfahrungen vergessen. Sie wussten von nichts, sie ahnten von nichts – selbst wenn sie ganz unter sich waren.
Zuweilen beklagten sie sich sogar, dass sie noch so dumm wären.
»… Denke Dir, neulich habe ich mich schrecklich blamiert«, sagte Lisbeth Wendhagen. »Ich fragte nach der Geschichte mit der Russin, von der jetzt immer so viel die Rede ist. Findest Du da etwas dabei?«
Agathe fand natürlich nichts dabei.
»Eugenie sagte nachher, danach hätte ich als junges Mädchen nicht in Gegenwart von Herren fragen dürfen. Ich verstehe gar nicht, was sie meinte.«
»Na ja – die jungen Frauen – die sind natürlich au fait.«
Agathe ekelte sich oft geradezu vor ihren Freundinnen. Aber man musste doch auch selbst sehr vorsichtig sein.
IX.
Da hatte sie neulich ein wundervolles Buch in Papas Bibliothek aufgestöbert. Bei der großen Herbstreinigung war es entdeckt. Nachdem sie, in Staub und Zug vor dem Bücherschrank kniend, ein Kapitel gelesen, konnte sie sich nicht wieder trennen, nahm es mit in ihre Schlafstube und las alle Abend im Bett – denn es wurde im Zimmer nicht geheizt – und auch nach Tisch, wenn Mama schlief.
Sie hätte geglaubt, es wäre für Frauen einfach