Dass solch ein Buch existierte, und sie hatte es nicht gewusst! In dem Glasschrank stand es, unbeachtet – sie hatte beim Abstäuben seinen Titel wer weiß wie oft gesehen:
Höckels »Natürliche Schöpfungsgeschichte.«
Und ihr Vater hatte nicht vor Freude geschrien, als er es las – wie seltsam!
Immer nur die Witze über unsere Abstammung von den Affen, die eine Zeit lang Mode waren, bis man ihrer überdrüssig wurde und man in guter Gesellschaft nicht mehr davon redete.
Agathe erinnerte sich auch, vom Domprediger gehört zu haben, dass die Gelehrten längst über Darwins und Häckels Standpunkt zur Tagesordnung übergegangen seien.
Wie mochte es sich damit verhalten?
Agathe konnte es nicht glauben.
Von einer so großartigen neuen Welt-Anschauung kehrt man nicht einfach zu der langweiligen Tagesordnung zurück.
Ach, Männer, die sich hier vertiefen – die weiter forschen und grübeln durften – die Glücklichen! Die Glücklichen! Denen brauchte freilich die dumme Liebe nur etwas Nebensächliches zu sein! Am Ende fand auch sie in den neuen Gedanken ihren Frieden. Sie sah doch nun, dass es so sein musste – dass die Natur unerhört grausam war, dass Millionen Keime fortwährend untergingen, damit die anderen Raum bekämen, sich zu entwickeln. So war sie eben auch einer von den schwächlichen, unnützen Keimen – was war da weiter? Dass es eine solche Verschwendung gab, hatte sie allerdings vorher auch schon gewusst. Aber sie bezog das nie auf sich, sie hatte immer für sich selbst einen Platz außerhalb der Natur gesucht und mit einem Gotte gehadert, der Wunder tun konnte und nur keins ihr zu Liebe tun wollte!
Versinken in diesem vielgestaltigen, unermesslich reichen All! Ganz still werden – ganz still. Und doch wieder lebendig! Wie war die Natur ihr interessant geworden. Wie konnte man sich von den widerwärtigen Menschen erholen bei den Käfern und Blumen und den fabelhaften Rädertierchen. Und dann wieder die unglaublichen Beziehungen zu den Menschenwesen. Von allem musste sie noch viel, viel mehr erfahren.
Als Weihnachten kam, freute sie sich endlich einmal wieder auf das neue Jahr.
In der »Natürlichen Schöpfungsgeschichte« fand Agathe auf der letzten Seite ein Verzeichnis von Büchern, die empfohlen wurden, falls man sich auf naturwissenschaftlichem Gebiet weiterbilden wollte. Von Häckel selbst empfohlen – von diesem herrlichen Manne!
Sie schrieb sich eine Menge von den Namen auf. – Hätte sie nur noch ihr Toilettengeld gehabt, wie früher! Es war eine alberne Gutmütigkeit gewesen, darauf zu verzichten, im ersten Schrecken über die notwendigen Einschränkungen, die die Eltern sich auferlegen mussten. Jetzt bat sie nur um Geld, wenn eine Anschaffung durchaus nicht mehr umgangen werden konnte.
So wählte sie lange, ehe sie zwei oder drei der Bücher auf ihrem Weihnachtswunschzettel setzte. Welche mochten die interessantesten sein? Welche zu kennen die notwendigsten? Eigentlich war’s ein Lotteriespiel. Nun – auf jeden Fall würde sie sich zum Geburtstag wieder ein Buch wünschen und dann immer so weiter. Sie war schon so alt, sie musste sich wahrhaftig eilen, um nur noch einen Teil des gewaltigen Wissensschatzes sich zu eigen zu machen!
Das hätte sie nicht haben können – dazu hätte sie nicht Zeit gefunden, wenn sie verheiratet gewesen wäre. Endlich schien es doch zu etwas gut, dass sie alte Jungfer geworden war!
Ob Papa, ihr wohl die drei Bücher schenken würde? Oder nur zwei? Er war so entsetzlich erstaunt gewesen, als sie ihm ihren Wunschzettel überreichte.
»Du willst ja gewaltig hoch hinaus«, hatte er lächelnd gesagt. »Was willst Du Dir denn für unverständliches Zeug in Dein kleines Köpfchen packen?«
»Ach Papa – ich muss mich ein bisschen bilden!«
»Nun ja – dagegen bin ich durchaus nicht.«
»Die natürliche Schöpfungsgeschichte habe ich ganz gut verstanden.«
»So – die hast Du also gelesen? Das war recht überflüssig. Ein andermal fragst Du mich, ehe Du Dir etwas aus meinem Bücherschrank holst. Verstanden? Junge Mädchen fassen dergleichen Werke oft ganz falsch auf.«
»Das Buch mit den schrecklichen Illustrationen?« fragte Frau Heidling. »Aber Agathe, so etwas möchte ich doch nicht lesen.«
»Mama, es ist wirklich sehr interessant. – Und wenn – wenn man nicht heiratet, muss man doch irgend etwas haben, was einem Spaß macht.«
Agathe schämte sich über die kindische Art, in der sie von einer Frage redete, die wahrhaftig schwer und ernst genug war. Aber sie konnte nichts dafür – es kam ihr geziert vor, zu sprechen, wie es ihr eigentlich ums Herz war.
»Na – wir wollen einmal sehen«, sagte der Regierungsrat.
Sie fiel ihrem Vater um den Hals und küsste ihn stürmisch.
»Du Wirbelwind«, bemerkte er zärtlich, ihr die Wangen klopfend. »Und das nennt sich alte Jungfer!«
Agathe hatte die schönsten Erwartungen. Nein – so grausam – so grausam konnten die Eltern nicht sein … sie würden ihr schon den Wunsch erfüllen!
Auf ihrem Weihnachtstisch fand sie ein reizendes Jabot aus rosa Krepp – sie hatte es einmal in einem Schaufenster bewundert – und einen Prachtband mit bunten Bildern: die Flora von Mitteldeutschland, zum Gebrauch für unsere Töchter, – daneben eine geschnitzte Blumenpresse.
»Siehst Du, liebes Kind«, sagte ihr Vater freundlich, »hier habe ich ein sehr hübsches Werk gefunden, das besser für Dich passt, als die Bücher, die Du da aufgeschrieben hast. Ich blätterte in den Sachen – sie wollten mir gar nicht für mein Töchterchen gefallen. Hier findest Du eine Anweisung, wie man Blumen trocknet – daraus fabriziert Ihr ja jetzt allerliebste Lichtschirme! Das wird Dir auch Spaß machen!«
Agathe sah stumm vor sich nieder. Sie musste an den Herwegh denken, den man ihr einst gegen die fromme Minne eingetauscht … Wiederholte sich denn jedes Ereignis immer aufs neue in ihrem Leben? Und würde sich’s nach zehn Jahren ebenso wiederholen?
Entwickelten sich denn alle Wesen in dieser Welt zu höheren Daseinsformen und nur sie und ihresgleichen blieben davon ausgeschlossen? Sie war »das junge Mädchen« –