Sie glaubte, es müsse wieder ein Blutstrom quillen und ihre Qual enden. Aber es löste sich nur ein zäher Schleim, und dann beruhigte sich der Anfall.
Sie war seelisch tief erregt, und von dem Schweiß der Schwäche übergossen, mit strömenden Tränen bat sie Papa und Mama, ihr den Abschied nicht so schwer zu machen – sie möchte ja so gerne sterben, und es wäre ja gut so. Und sie hätten ja doch noch Walter und Eugenie, Eugenie würde ihnen auch eine gute Tochter sein.
Endlich schlief sie sitzend, die Arme um ihres Vaters Hals geschlungen, den Kopf an seine Schulter gelehnt, vor Erschöpfung ein. Und er hielt sie so, wohl eine Stunde lang.
Als sie aufwachte, sah sie aus verworrenen Träumen beim Schein des Nachtlichtes noch immer die beiden Gesichter angstvoll und mit verzweifelter Liebe auf sich gerichtet.
Traurig lächelnd legte sie sich auf die Kissen zurück und ließ sich betten und zudecken.
Nein – sie durfte nicht sterben – sie musste schon leben wollen.
Heimlich meinte sie: wenn sie es auch versuchte, Gott würde ihr Opfer verstehen und würde wohl Einsehen haben.
Der alte Hausarzt schien am folgenden Morgen durch die Schilderung des nächtlichen Schreckens nicht sonderlich beunruhigt. Er meinte, die Heilung mache gute Fortschritte, und das werde der letzte Anfall gewesen sein.
Nach vierzehn Tagen durfte Agathe wieder aufstehen, sollte gute Beefsteaks und Schwarzbrot essen, Milch und Bier trinken, spazieren gehen oder doch in der Luft sitzen und liegen.
Es fanden jetzt täglich Beratungen zwischen den Verwandten und den Eltern statt, wohin man im Sommer mit ihr gehen könne und ob nicht für den nächsten Winter ein Aufenthalt im Süden angezeigt sei. Agathe hörte um sich her die bekannten Namen: Görbersdorf – Davos – Meran. Natur- und Kaltwasserärzte wurden vorgeschlagen und ein sehr berühmter Mann, der nach einem Metallstück, das der Kranke einige Zeit am Leibe getragen, die erfolgreichsten Kuren verordnete. In jedem Briefe, den die Mama von ihren Freunden empfing, wurde ihr ein neues Heilmittel angepriesen und auch gleich zugeschickt. Heute sollte Agathe Gelee von Schnecken essen, morgen sich mit Hasenfett einreiben und übermorgen Eselsmilch trinken.
Schließlich schrieb der Regierungsrat doch an eine bekannte Größe auf dem Gebiete der Lungen- und Brustkrankheiten. Als der Professor antwortete, es treffe sich gut, er habe eine Patientin in jener Gegend zu besuchen und könne damit einen Abstecher nach Bornau verbinden, wirkte das wie eine Erlösung auf die Eltern.
Agathe selbst sah der Untersuchung in schwankender Stimmung entgegen. Sie hatte keine Lust mehr zum Leben und keine Freudigkeit mehr zum Tode. Ein langes Leiden mit den Stationen scheinbaren Wohlbefindens dazwischen – der Jammer von Papa und Mama ins Endlose hinausgezogen – das war doch ganz anders schrecklich als ein leichtes, friedliches Einschlafen. Sie sah die ihr drohende Krankheit nicht mehr in einer romantischen, sondern in einer trüben, kläglichen Beleuchtung, sie sah plötzlich alles Widerliche, Unästhetische, Peinvolle. Seit es ihr wieder besser ging, war sie überhaupt nicht mehr in der sanften, verklärten Gemütsverfassung, sondern ungeduldig, leicht zur Heftigkeit und zu Tränen gereizt.
Sie versuchte, sich durch Lesen von Psalmen und durch Gebet zu beruhigen. Ihre Seele in den Willen des Herrn zu ergeben – ach, das war das einzige, was ihr helfen konnte. Aber sie glaubte endlich, still geworden zu sein, so merkte sie daran, dass sie keinen Bissen feste Nahrung herunterschlucken konnte und dass ihre Hände von einer unangenehmen Feuchtigkeit bedeckt waren, wie fruchtlos ihr Mühen blieb.
Der alte Rat kam schon vor dem Professor in seinem eigenen Wagen. Endlich erschien auch der berühmte, erwartete und gefürchtete Gast.
Agathe befand sich mit den Eltern in der großen Wohnstube. Auch Tante Malwine war gegenwärtig und Cousine Mimi, weil der Vorgang sie, ihres künftigen Berufes wegen, doch sehr interessierte. Onkel August empfing den Professor unten auf der Treppe, geleitete ihn hinauf und übergab ihn dem Regierungsrat. Alles war unbeschreiblich feierlich – wie bei einer Gerichtssitzung.
Der Professor schien etwas erstaunt durch die zahlreiche Familie.
»Ach – welches ist die Patientin?« fragte er, indem er ringsum grüßte und dem Kollegen die Hand schüttelte.
Agathe erhob sich zitternd.
Er sah sie scharf an. Ein zwergenhaft kleiner, bleicher Mann. Bequem in einen Lehnsessel zurückgelegt, die Hände behaglich gefaltet, ließ er sich erzählen, wie der Fall sich ereignet habe, wie alt Agathe sei, welche Krankheit sie durchgemacht habe, – auch das Alter ihrer Eltern und ihr Gesundheitszustand wurde genau geprüft, und besonders fragte er, ob schon Fälle von Tuberkulose in der Familie vorgekommen seien. Nein, das war durchaus nicht der Fall. Frau Heidling beantwortete alles mit der heiteren Stimme der angstvollen Zeiten.
Endlich verließ der Regierungsrat das Zimmer.
»Sie sind sehr eindrucksfähig«, sagte der Professor, das Ohr an Agathes Brust gelegt … »ganz ungewöhnlich eindrucksfähig.« Den Kopf erhebend, dicht vor ihrem Gesicht, und den magern Hals betrachtend, in den die letzten Wochen förmliche Löcher gegraben hatten, fragte er: »Haben Sie sich vor diesem Anfall heftig alteriert?«
»Ja«, hauchte Agathe, und eine dunkelrote Blutwelle färbte ihr Hals und Busen.
»Wann – wenn ich fragen darf?«
»Am Tage vorher.« Sie zitterte stärker, ihr Herz schlug qualvoll heftig.
»Kind – davon hast Du mir ja gar nichts gesagt«, begann ihre Mutter vorwurfsvoll.
Der Professor warf der Rätin einen schnellen, zur Vorsicht mahnenden Blick zu.
»Ich dachte es mir«, bemerkte er ruhig. »Das erklärt die Sache. So – nun wollen wir einmal auf der anderen Seite klopfen … Die Wunde ist übrigens sehr gut geheilt.«
Der alte Sanitätsrat erhielt ein Kopfnicken.
Agathe legte ihr Kleid wieder an und die Ärzte zogen sich zu einer Beratung zurück.
Der Regierungsrat und Onkel Bär sahen zur Tür herein.
»Was hat er gesagt?«
Man zuckte mit den Schultern und zeigte nach der Tür, hinter