Ein Klingeln schreckte sie aus leichtem Halbschlaf. Mit zitternden Knien ging sie nach der Tür. Immer kam ihr gleich der wahnwitzige Gedanke: wenn das jetzt Lutz wäre!
Sie öffnete die Flurtür ein wenig.
»Ich bin’s – Martin Greffinger«, sagte eine bekannte Stimme. »Bitte, lass mich einen Augenblick hinein, Agathe.«
Er schob die Tür auf und trat ein, während sie noch überlegte, ob sie das Verbot des Vaters ignorieren dürfe. Und dann verschloss er selbst die Tür und hängte die Sicherheitskette ein – das fiel ihr als sonderbar auf.
»Ich will Dich nicht lange stören«, sagte er etwas kurzatmig. »Deine Eltern sind verreist – sie werden nicht erfahren, dass ich hier war … Ich wusste, dass die Mädchen vorhin fortgegangen sind. Ich will Dich nicht in Ungelegenheiten bringen.«
»Willst Du nicht hereinkommen?« fragte Agathe verlegen.
Er folgte ihr ins Wohnzimmer, aber als sie ihm einen Stuhl bieten wollte, sagte er hastig:
»Nein, lass nur – ich stehe auf dem Sprunge … Ich wollte Dir nur Adieu sagen.«
»Willst Du verreisen?« fragte Agathe höflich.
»Ich bin ausgewiesen. Ja – polizeilich.«
»Martin – um Gotteswillen!«
Er lachte kurz auf. »Sie sind ja wie die Spürhunde hinter uns her – die feige Bande!«
Er ballte die Faust.
»Wenn ich mich nach zwölf Uhr noch hier blicken lasse, werde ich von Gendarmen über die Grenze geschafft. – Na hab’ nur keine Angst, ich fahre mit dem nächsten Schnellzug nach der Schweiz. Dann seid Ihr mich los!«
Er lachte wieder, und Agathe sah ihn verwirrt, erschrocken und ratlos an.
Er beobachtete sie einen Augenblick schweigend.
»Du – ich habe eine Bitte an Dich. Hebe mir dies Paket auf – ich werde jedenfalls an der Grenze untersucht.«
»– Kannst ruhig sein«, fügte er mit humoristischem Ausdruck hinzu, »es sind nur Schriften. Wenn ich sie verbrenne, ist’s immerhin ein Verlust für mich. Darum dacht’ ich, Du könntest sie mir vielleicht nachschicken. Willst Du sie übrigens vorher lesen – dem steht nichts im Wege.«
Agathe schauderte wie vor etwas Unreinem zurück.
»Das möcht’ ich nicht, Martin – bedenke doch …«
»Es hat ja keine Gefahr! Bei der Tochter vom Regierungsrat Heidling wird keine Haussuchung gehalten – darauf kannst Du Dich verlassen … Deine Eltern beaufsichtigen Deine Korrespondenz doch nicht?«
»Nein – aber …«
»Neulich kam es mir vor, als wäre Mut in Dir … Ja, das habe ich Dir hoch angerechnet – dass Du mir da auf der Straße die Hand gabst … Na – interessiert es Dich nicht, zu wissen, warum ich mich eigentlich von Euch allen losgemacht habe?«
»Doch – es ist mir nur so etwas Fremdes, Ängstliches.«
»Ganz wie Du willst. Ich hatte das Bedürfnis, mich auf irgend eine Weise dankbar zu zeigen. Verstehst Du? Ich dachte: sie ist doch einen Versuch wert. – Siehst Du – da sind Geschichten drin, die Dich aufrütteln – das weiß ich – die Dich anders packen werden, als das blödsinnige Zeug, was Du sonst liest.«
»Ich möchte nicht …«
»Also – Du bist doch feige!«
»Nein – aber ich finde es unrecht, sich gegen die gesetzliche Ordnung zu empören«, antwortete Agathe kalt. Es schwebte ihr vor, dass sie ihre Pflicht tun müsse, indem sie dieses Urteil über die Richtung ihres Vetters fällte.
Martin blickte sie an in dem grauen Dämmerlicht des trüben Frühlingsabends. Sein Gesicht war müde und abgearbeitet, Falten zogen sich über die Stirn, seine Augen hatten einen tiefen, gramvollen Ausdruck, aber der Kummer lag nur wie eine Staubschicht über einer still zehrenden Glut.
Er drückte das Paket Schriften mit dem Arm fester an sich.
»Agathe – mir tut’s ja nichts, ob ich in der Schweiz bin oder hier. Aber es lassen sich arme Leute von ihrer Arbeit und ihrer Familie fortjagen, ins bittere Elend – um ihrer Überzeugung willen. Ja – zucke nur mit den Schultern! Ich habe im Dienste unserer Sache Frauen kennen gelernt, die täglich ihre Freiheit, ihre Existenz aufs Spiel setzten, um ihren Schwestern aus Not und Schande zu helfen. Das sind Frauen, die das Herz auf dem rechten Fleck haben! Die ich hochachte! – Aber Du willst von ihnen ja nicht einmal hören … Ihr kalten, armseligen Bougeois-Würmer – ich glaube, Ihr könntet nicht einmal ein Opfer bringen, wenn der Liebste es von Euch verlangte!«
»Martin …«
»Ich danke Dir, dass Du mir gezeigt hast, was wir von Euresgleichen zu erwarten haben. Das soll mir eine Lehre sein. Leb’ wohl.«
Agathe atmete schnell, ihr Antlitz brannte.
Greffinger war schon an der Tür, als sie die Hand ausstreckte und leise rief:
»Lass die Bücher hier.«
»Du willst? Du willst wirklich?«
»Ich will sie Dir nachschicken. Aber weiter nichts.«
»Agathe – das ist schön! Vergiss nicht … ich bin Dein Freund … Und lesen wirst Du sie schon. Steck’ sie dann ins Feuer!«
Die Hand wurde ihr geschüttelt, dass sie ihr weh tat. Die Tür schlug ins Schloss, und draußen verklangen Martin Greffingers kräftige Schritte, mit denen er in die Verbannung ging.
Agathe hielt das Bündel verbotener Bücher in den Händen und blickte beklommen auf sie nieder.
Dokumente einer Welt, aus der große, geheimnisvolle Stimmen zu ihr herübertönten – von Schicksalen redend, welche die Alltäglichkeit überragten – aus einer Welt, in der man mit so stolzem frohen Lachen Vaterland, Freunde, die sanfte, bequeme Gewohnheit ließ und Verachtung und Gefahr auf sich nahm … Aus einer Welt, in der Frauen, die ihr täglich Brot verdienen mussten, allstündlich sich dem Hunger oder dem Gefängnis preisgaben, um den Genossen und der heiligen Sache zu dienen.
Wo geschah solches in ihrer – in der guten Gesellschaft? Wer war dessen fähig von allen – allen, die sie kannte?
Wie kam das Feuer über diese Menschen? Auf welche Weise wurden sie ergriffen? Wie musste es sein, so tatbereit, so opferglücklich dazustehen und sich selbst zu geben in schauernder Lust – sich selbst in einen ungeheuren,