Aber ruhig bleiben – Dame bleiben – das hatte Agathe lebenslang geübt – das wenigstens gelang ihr.
Mit ernster, mädchenhafter Würde antwortete sie der Schauspielerin:
»Ich könnte nicht vergeben, wo ich verachten müsste.«
»Verachten? Das verstehn Sie ja nicht. – Ach – er –! Er liebt mich ja nicht mehr. Aber er liebt auch die anderen nicht – keine – keine. Sie werden ihm eben alle so schnell zuwider. Und wenn ich sterbe und man öffnet mir das Herz – ich glaube, man findet seinen Namen da mit glühenden Buchstaben eingebrannt.«
»Gnädige Frau – regen sich doch nicht auf, das Kind fängt auch schon an zu weinen«, mahnte die Bürgersfrau, welche Didi an die Hand genommen hatte.
Die Daniel schluchzte auf, trocknete sich das Antlitz und zog den grauen Schleier vor.
»Warum denn auch darüber reden – es ist ja umsonst. Verzeihen Sie, dass ich Sie mit meinem Kummer belästigte. Nicht wahr – ich habe Ihr Versprechen?«
Agathe neigte den Kopf. Die Frauen verließen mit dem Kinde das Wartezimmer. Nach einigen Minuten kamen andere Leute herein, es läutete – man rief zum Einsteigen.
XVI.
Frau Heidling empfing ihre Tochter auf dem Bahnhof. Während beide in Onkel Bärs großer dunkler Kalesche die aufgeweichte Landstraße entlangrollten, benutzte Frau Heidling gleich die Gelegenheit, um sich bei Agathe nach der Wäsche und den anderen häuslichen Angelegenheiten zu erkundigen. Es beunruhigte sie schon die ganzen Tage, dass sie Agathe alles allein überlassen hatte. Agathe war ja freilich ein erwachsenes Mädchen, und ihr Mann hatte recht, wenn er ärgerlich wurde, weil sie die Reise mit ihm als ein Opfer betrachtete, und wenn er sagte, Agathe müsse doch auch lernen, sich selbstständig um etwas zu kümmern. Die Regierungsrätin hatte nun einmal das quälende Gefühl, sie würde bei der Heimkehr vieles anders finden, als sie es gewohnt war und als sie es für richtig hielt. Agathe war auch so gleichgültig, so interesselos. Ihre Fragen: ob keine von den Damastservietten gefehlt habe, und ob die Mädchen abends keinen Braten, sondern Wurst bekommen hätten, beantwortete sie in einem milden, unliebenswürdigen Ton.
Agathe dachte nicht daran, der Mutter von ihrer Begegnung mit der Daniel zu sagen. Sie würde sich aufregen, und Agathe war von jeher gewohnt, ihre Mutter zu schonen. Dann die Furcht, Mama möchte irgend etwas Moralisches vorbringen – etwas Tadelndes über Lutz und die Schauspielerin, oder Agathe bedauern, dass sie eine so hässliche Geschichte erfahren hatte. Und das alles war es doch gar nicht, was ihr so unsinnig weh tat – nicht Abscheu – nicht tugendhafter Unwille – nur Neid – Neid – Neid!
*
Agathe hörte beim Abendessen ein langes und breites Gespräch: Cousine Mimi wollte Diakonissin werden, aber die Eltern wünschten, sie sollte sich die Sache noch ein Jahr überlegen. Der Regierungsrat nannte den Plan eine exaltierte Mädchenidee und sprach von dem Beruf, den die Tochter zuerst bei den Ihren zu erfüllen habe; Agathe kam es vor, als sei sie von den Menschen, ihrem Tun und Reden und Wollen durch einen weiten, mit Nebel angefüllten Raum getrennt.
Mimi begleitete sie zu ihrem Zimmer – sie hatte es auch während jenes fröhlichen Sommeraufenthaltes als Pensionärin bewohnt. Nicht das Geringste hatte sich hier verändert: dieselbe altertümliche, weiß und grün gestreifte Tapete, dieselben geraden, hochlehnigen Stühle, mit knisternd steifem, hartglänzendem Möbelkattun bezogen, der auf der ganzen Welt nur noch in den Gaststuben konservativer Landedelleute zu finden ist. Die kühle, von einem Lavendelaroma und dem Geruch der Viehställe durchzogene Luft schlug Agathe mit tausend plötzlichen Erinnerungen an die erste Jugend, an Frohsinn und Gelächter entgegen.
»Weißt Du noch?« fragte Mimi und hielt die Kerze empor, einen alten, wunderlichen Kupferstich zu beleuchten. In wurmzerfressenem Mahagonirahmen Sappho, die sich flatternden Gewandes und flüchtigen Fußes mit schönem Schwunge vom leukadischen Felsen ins Meer stürzt.
Eines Tages hatten sie die Jungens hereingeholt und o – wie hatten sie mit Martin und den Kadetten über diesen theatralischen Schmerz gelacht, gekichert und gespottet.
Mimi zündete ihrer Cousine das Licht an und ließ sie allein.
Agathe musste sich ruhig verhalten, denn nebenan, nahe der Tür, schliefen die Eltern.
Und vor ihr lag die lange, lange, einsame Nacht.
*
Das war so grauenhaft: sich vorzustellen, wie er bei einer anderen gewesen, während sie ihm gehörte mit jedem Pulsschlag ihres Blutes, dem ganzen überschwänglichen Gefühl ihres Herzens und allen Träumen ihres Hirns.
… Und kein Gedanke kam von ihm zu ihr geflogen … Sie glaubte seine geistige Nähe zu empfinden, und sein Kopf ruhte befriedigt auf einer weichen, atmenden Brust, sein Ohr hatte in stiller Dunkelheit dem freudewilden Herzschlag jener Frau gelauscht. Ihre geöffneten Lippen hatten den Hauch seines Kusses zu spüren gemeint, und sein Mund hatte Wonne von dem Antlitz der anderen getrunken …
Pfui – wie das gemein war und schmachvoll lächerlich dazu … Wie ihre im Todeskampf ringende Liebe geschändet wurde durch die Erkenntnis der Wahrheit, der elenden, abscheulichen Wirklichkeit.
*
»Hast Du Kopfweh?« fragte Mama Agathe, als die Verwandten sich um den Frühstückstisch versammelten.
»Ich weiß nicht – nein.«
Die Wände, der Tisch, der Stuhl, auf den sie sich setzte, alles schien leise zu schwanken. Sonderbar …
»Du wirst mir doch nicht krank werden?« fragte der Regierungsrat besorgt.
In dem heiteren Frühlingssonnenschein, der heut Morgen zu den hohen Fenstern des Gartensaals hereinglänzte, unter den vollen, gesunden Landmenschen, die in ihren Kleidern schon einen Duft von draußen – von Gras und Blumen und frischer, feuchter Erde zum Frühstück brachten, sah er mit Unzufriedenheit und verletztem Vaterstolz, wie abgemagert und dürftig Agathe vor ihm saß. Seine Tochter war ja hässlich … ein graues, verzerrtes Gesicht mit scharfen, spitzen Zügen und dunklen Ringen um den Augen.
Mimi legte ihr Schinken und Honig und Kuchen auf den Teller.
»Liebe