Junge Männer mit koketten Reisemützen und flatternden Havelocks eilten gewandt voraus, sich die besten Plätze zu sichern, Kofferträger schafften rufend und scheltend Platz für ihre Bürde. Die gelben Gepäckkarren rasselten, Kinder wurden an der Hand von Müttern und Vätern rücksichtslos weitergezerrt, alte Damen mit Schachteln und Schirmen trippelten und rannten keuchend vorwärts. Eile tat not – man hatte sich sehr verspätet.
Agathe fiel ein kleiner Junge auf in einem hübschen Mäntelchen, der schon sekundenlang mit dem Strom in ihrer Nähe fortgeschoben wurde, wobei er sich furchtsam nach allen Seiten umsah. Und nun blieb er stehen, ein winziges Hindernis für die Vorwärtsdrängenden, das unsanft aus dem Wege gestoßen wurde. Er begann zu weinen. Agathe wendete sich zu ihm zurück.
»Kleiner, Du hast Dich wohl verloren?«
Er schluchzte aus und nickte mit dem Kopfe.
Was war zu tun? Man konnte doch das kleine Kind hier nicht allein lassen.
»Mit wem bist Du denn gekommen? Mit Deiner Mama?«
Er schüttelte den Kopf.
»Wie heißt Du denn?«
»Didi.«
Agathe führte das Kind ins Restaurant und sah dabei durch die großen Fenster, wie draußen ihr Zug abfuhr. Sie wandte sich zu der Büffetdame, um zu fragen, was man tun könne. Augenscheinlich war das Kind in der Verwirrung vom anderen Perron herübergekommen. Ein Dienstmann sollte den Fund bei den Portiers und in den verschiedenen Wartesälen des weitläufigen Zentralbahnhofes bekannt machen. Inzwischen behielt Agathe den Kleinen unter ihrer Obhut. Der nächste Zug für sie ging erst in einer Stunde.
Hier auf dieser Seite spürte man schon nichts mehr von dem Unglücksfall, der jenseits des Tunnels die Ordnung störte. Hier ging alles seinen einförmig ruhelosen Gang weiter.
Neue Züge rasselten donnernd in die gewaltige Halle – Läuten – Pfeifen. Neue Menschenströme drangen die Treppen hinab und in die Säle.
Agathe zog sich mit ihrem Schützling ins Damenzimmer zurück. Sie nahm ihm das nasse Mäntelchen ab und wickelte ihn in ihr Plaid, dann setzte sie sich neben das Kind auf das Sofa und fütterte es mit einer Tasse Schokolade. Ganz still und traulich war es hier. Der Kellner hatte eine Gasflamme angezündet und die Tür geschlossen.
Ein Kind wie dieses – und von der Reise kommen … Von Lutz abgeholt werden, in einem geschlossenen Wagen, an die Scheiben schlägt der Regen, in seinen Arm sich drücken, mit dem schläfrigen Kleinen auf dem Schoß … Wie trugen denn Menschen nur solche Wonne? Sie wurde doch manchem zu teil. Aber mehr zu fühlen, als bei der Vorstellung, wie das sein könnte … das war ja nicht möglich.
Agathe zog den kleinen Buben an sich – fest – fest, und küsste ihn auf die Stirn, auf das feine blonde Haar, auf die Augenbrauen.
Erschrocken ließ sie ihn los, als habe sie etwas Unrechtes getan, weil die Tür aufgerissen wurde. Zwei Frauen kamen eilig herein. Agathe sah eine diskrete, schwarze Toilette – einen grauen Gazeschleier, von einem blassen, verschminkten Gesichtchen fortgeschoben – Didi sprang vom Sofa, aus dem Plaid und jauchzte ihnen entgegen:
»Mama! Meine Mama!«
»Da ist er, der Unglücksbube! wahrhaftig!« rief die Daniel. »Mein Schatz! O Du Schatzerl – haben wir Dich gesucht!«
Sie hob ihn auf und hielt ihn am Herzen – fest – fest. Küsste ihn auf die Stirn – auf das feine blonde Haar und auf die Augenbrauen.
Die Frau, die mit ihr kam, entschuldigte sich bei Agathe, sie habe das Kind nur einen Augenblick allein gelassen, gerade unter der großen Uhr, wo sie die Mama erwarteten, weil sie gern das Unglück sehen wollte – und der Schrecken, als das Kind verschwunden war!
Agathe hörte nichts.
Die Daniel – sie, eine Mutter!
Und Adrian Lutz?
Es wurde mit einem Mal hell und klar und eiskalt in ihr. Sie sah alles Vorhergegangene – sie wusste alles.
Die Schauspielerin wandte sich mit ausgestreckten Händen zu Agathe, um ihr zu danken. »Ich bin Ihnen sehr verpflichtet –«
Sie fand ihre Worte nicht weiter vor dem verletzenden Hochmut in Agathes Haltung.
»Sie sind lieb zu dem Kinde gewesen«, stammelte sie unsicher und erregt. »Es ist nun einmal … Ich bin immer so in Angst um das Kind, weil ich nicht bei ihm sein kann … Wenn ich einen Tag keine Nachricht habe, gebärde ich mich wie eine Unsinnige.«
Sie war ganz verweint und zerstört. Sie sah Agathes stumme, starre Abwehr schon nicht mehr. Sie band dem Kinde das Mäntelchen um, setzte ihm die runde Mütze auf. Die Frau, bei der das Kind in Pflege war, wollte ihr helfen, aber sie ließ es nicht zu.
Agathe folgte dem mütterlichen Tun der kleinen Soubrette mit den Blicken, wie sie sie oft auf der Bühne beobachtet hatte. Nicht anders. Alles Empfinden schien plötzlich in ihr ausgelöscht.
Der Kleine war bereit zum Gehen.
»Komm, Adrian, küss’ der Dame die Hand und sag’ Adieu!«
Agathe wich zurück. Aber es war ja gleich – alles war gleichgültig. Und sie bückte sich und berührte des Kindes Wange mit ihren kalten, erstarrten Lippen. Sie reichte auch der Daniel die Hand – ganz mechanisch.
Über das erregte Gesichtchen der Schauspielerin ging ein Ausdruck von Erschrecken. Unschlüssig stand sie vor Agathe.
»Ich glaube – kommen wir nicht aus derselben Stadt?«
»Wir sind uns wohl öfter begegnet«, antwortete Agathe.
Die Daniel wurde plötzlich sehr rot, ihr Mund begann zu zittern.
Auch Agathe errötete und sah zur Seite. Jetzt kam er plötzlich – der Schmerz.
»Fräulein – ich bitte Sie – verraten Sie mein armes Geheimnis nicht!«
Die Augen der beiden Mädchen blickten ineinander und strömten plötzlich über von Tränen – von einer unendlichen Traurigkeit. Sie verstanden sich in etwas Geheimnisvollem, in einem Leiden, für das es keinen Laut gab – das auch durch kein Wort hatte bezeichnet werden können und das weit hinausging über ihr eigenes Schicksal.
»Sie sind gut«,