»Mani!« murmelte sie zärtlich und verwirrt und faltete ängstlich die Hände. »Ach lieber Gott!«
Sie begann auszurechnen, wie viel Tage es noch bis zu den großen Ferien seien, wo sie ihren Vetter wiedersehen werde.
Darüber schlief sie ein und diesmal fest und traumlos – bis zum Morgen.
*
Agathe musste immer aufs neue staunen, wie stark und sicher Eugenie ihre große Leidenschaft in ihrem Herzen verschloss, und mit welcher Lebendigkeit sie den Tag über an allen Torheiten, die getrieben wurden, ihren Anteil nahm. Neben den religiösen Kämpfen beschäftigten sich die jungen Damen hauptsächlich mit der Frage, wer von ihnen die längsten Augenwimpern habe. Es wurden zur Lösung dieser Zweifel die schwierigsten Messungen vorgenommen. Wirklich gehörte viel Interesse für die Sache dazu, um sich ein Blatt Papier unter das Lid zu schieben und sich mit einem Bleistift dicht vor dem Augapfel herumfuchteln zu lassen.
Mitten im Vierteljahr kam eine neue Schülerin, die Tochter eines berühmten Schriftstellers aus Berlin. Sie wurde mit der größten Spannung empfangen. Ein völlig farbloses, elfenbeinweißes Gesicht und hellgrüne Augen unter schwarzen Brauen, die über der Nasenwurzel dicht zusammengewachsen waren, gestalteten das Äußere dieses Mädchens eigenartig genug. Dazu eine Fähigkeit, sich mit der großen Zehe an der Nase kitzeln zu können und die Finger ohne jede Schwierigkeit nach allen möglichen und unmöglichen Richtungen zu biegen und auszurenken – das alles musste die kühnsten Erwartungen von etwas Außergewöhnlichem übertreffen. Agathe befiel bei dem Anblick der Neuen sofort eine böse Ahnung.
Da Klotilde erklärte, ihr Vater habe stets ihre Aufsätze korrigiert, wurde sie natürlich ohne weitere Prüfung in die erste Klasse aufgenommen. Dr. Engelbert glaubte dies dem Ruhm einer deutschen Litteraturgröße schuldig zu sein. Hier erfüllte die junge Dame indessen die auf ihr gebauten Hoffnungen so wenig, dass Dr. Engelbert sich genötigt sah, sie in die zweite Klasse, welche seine Frau leitete, zurückzuführen. Es stellte sich denn auch heraus, dass Klotilde nur die Stieftochter des Dichters war, also nicht wohl seine Talente geerbt haben konnte.
Schon am ersten Abend ging Eugenie mit der Neuen im Garten spazieren und ließ sich von ihr in der Kunst unterrichten, sich eine griechische Nase zu schminken. Agathe wagte einen schüchternen Einwurf. Aber damit kam sie schlecht an. Eugenie vernachlässigte sie in den nächsten Tagen in wahrhaft brutaler Weise. Eine heftige Korrespondenz erfolgte zwischen den zwei Schlafsaalsgenossinnen, man schrieb sich in pathetischen Ausdrücken die beleidigendsten Dinge. Agathe durchweinte vor Zorn und Eifersucht ganze Nächte. Schließlich erklärte ihr Eugenie rund heraus: sie liebe Klotilde, sie habe es vom ersten Augenblick an gefühlt. Gegen Liebe lasse sich nichts tun, und Agathe möge sich eine andere Freundin suchen. Man sprach nicht mehr zusammen – man ging aneinander vorüber, ohne sich zu sehen.
Dass ein hässliches, kleines Judenmädchen die Gelegenheit ergriff, sich an die Verlassene zu drängen, konnte sie nur wenig trösten. Agathe begann jetzt Eugeniens Liebesgeschichte mit dem Kommis in einem anderen Licht zu sehen und etwas Unerlaubtes, Hässliches darin zu finden. Wer konnte wissen, ob sie nicht Unrecht hatte – sie war ja eine ganz treulose Natur.
Eugenie schien sich indessen mit der Neuen herrlich zu amüsieren. Am Tage lasen die jungen Mädchen Ottilie Wildermuth und die Polko, des Nachts im Bett lasen sie Eugen Sue. Auch ein schmutziger Leihbibliothekband mit herausgerissenem Titelblatt machte die heimliche Runde. Er enthielt die Schicksale einer Frau, die mit einem Mal in Form einer Maus behaftet ist, das sie sorgfältig zu verbergen sucht, während der tückische Zufall das Geheimnis beständig enthüllt. Agathe fand diese Geschichte dumm und eklig.
Da hieß es, sie wäre prüde, und man nahm sich vor ihr in acht. Klotilde hatte einige von den Werken ihres Vaters mitgebracht, die sie ihren bevorzugten Freundinnen borgte, jedes Mal mit der beleidigenden Bemerkung: sie der frommen Agathe nicht zu zeigen!
Und was die Mädchen für rote Köpfe bekamen, wenn sie die Bücher in verborgenen Lauben verschlangen. Es war aber auch grässlich aufregend, sich vorzustellen, dass ein so feiner, vornehmer Herr, wie der Dichter, gegen den sogar Dr. Engelbert die Unterwürfigkeit selbst gewesen war, so schreckliche Sachen schrieb. – Hätten die Mädchen nur nicht immer ihre geflüsterten Unterhaltungen abgebrochen, wenn Agathe sich näherte. Sie verging vor Neugier, zu erfahren, was jetzt wieder alle so furchtbar beschäftigte. Aber der Stolz hinderte sie, auch nur eine einzige Frage zu tun. Es war ein entsetzlicher Zustand, ausgeschlossen und verachtet zu sein, während man sich grenzenlos nach Vertrauen und Liebe sehnte.
Endlich erfuhr sie das Geheimnis durch das Judenmädchen, das ihr zu ihrem heimlichen Verdruss mit der Treue eines kleinen Hundes nachlief. Frau Dr. Engelbert würde wahrscheinlich ein Kindchen bekommen. Die jungen Damen waren einig in der Empörung, dass man ihnen, den Töchtern der besten Familien, einen so anstößigen Anblick zumuten könne! Warum entrüsteten sie sich nur so heftig? dachte Agathe – sie hatten doch auch kleine Geschwister. Sie war gerührt und ein wenig verwirrt. Wenn Frau Dr. Engelbert in die Stube kam, suchte sie ihr unbemerkt etwas Liebes zu erweisen und lernte mit Eifer ihre Aufgaben, um sie beim Unterricht nicht zu kränken.
Frau Dr. Engelbert suchte sich mit der tröstlichen Aussicht zu beruhigen, das freudige Familienereignis werde in den großen Ferien fallen. Doch fühlte sie mit steigendem Unbehagen, wie fünfundzwanzig junge Augenpaare mit gierigem Vergnügen jede Veränderung ihres Äußern beobachteten und fünfundzwanzig schonungslose Mädchenzungen darüber tuschelten und flüsterten.
Ihr Mann fand ihre Ängstlichkeit übertrieben und bewies ihr mit seinem schönen Idealismus: deutsche Mädchen seien viel zu unschuldig und zu wohlerzogen, um die Sache auch nur zu bemerken.
Da wurde das Interesse traurig genug abgelenkt. Eine der Schülerinnen, ein blühendes, freundliches Geschöpf, bekam den Typhus und war in wenigen Tagen eine Leiche. Man hatte sie in der abgelegenen Krankenstube gepflegt, und niemand der Kinder durfte sie im Sarge sehen. Das Unschöne, Traurige sollte den jungen Wesen möglichst fern gehalten