Oder tot – still – im schwarzen Sarge mit der Myrthenkrone über der reinen Stirn – ach wie traurig – o wie schön! Agathe liefen bei dem Gedanken gleich die stets bereiten Tränen aus den Augen.
Mit einem herzlichen Mitleid gegen den armen Vetter erschien die junge Spröde zu spät bei Tisch. Martin füllte sich eben den Teller voll Makkaronipudding, aß tapfer drauf los und sah sie gar nicht an. Agathe war ein wenig enttäuscht. Die edle Strenge bekam eine Beimischung von Piquiertheit.
Martin betrug sich in den nächsten Tagen nicht wie ein unglücklich Liebender, auch nicht zudringlich, sondern flegelhaft, grob und ungezogen. Dann brachte er ihr zum Kirchgang am nächsten Sonntag eine von den sonderbaren braunen Calicanthus-Blüten, die es nur noch in dem altmodischen Garten von Bornau gab. Er wusste, dass Agathe ihren starken, schweren Würzduft besonders liebte. Die beiden waren nun wieder gute Freunde. Er machte aber keinen Versuch mehr, Agathe zu küssen. Das grüne Wollsträhnchen kam seit der Zeit nicht wieder zum Vorschein.
V.
Herr Heidling war, während die Erziehung seiner Tochter nach der Pensionszeit bei Pastor Kandler gewissermaßen die letzte Weihe empfing, als Regierungsrat in die Provinzhauptstadt zurückversetzt worden. Die Familie bezog hier die zweite Etage in einem eleganten Hause des neuen Stadtteils, welcher als Verbindungsglied zwischen der engen, dumpfigen, menschendurchwühlten Altstadt und dem im Bau Begriffenen mächtigen Zentralbahnhof geplant war.
Noch konnte jeder Windzug von den Feldern frei durch die erst halb fertigen Straßen blasen. Es war nicht eben behaglich, dass er stets Kalkstaub und Sandwolken von den vielen Bauplätzen in die Luft emporzuwirbeln fand und den Dampf, sowie den durchdringenden hässlichen Geruch des Asphalts, der in großen schwarzen Kübeln auf offenen Feuern erhitzt und für die Pflasterung der Trottoire zubereitet wurde, bald nach dieser, bald nach jener Seite wehte. Die bereits fertig gestellten Häuser ragten, mit ihren schweren geschnitzten Haustüren, ihren mit Stückwerk, Karyatiden und Balkons überladenen Fassaden und den nackten, fensterlosen Seitenflanken, unbeschützt durch gleichgroße Nachbarn, in geradezu erschreckender Höhe empor.
Dennoch sah man schon, dass dieser neue Stadtteil binnen Kurzem die Zierde von M. sein würde. Jeder fand es begreiflich, dass man das neue Gute durch ein unangenehmes Übergangsstadium erkaufen müsse. Die Wohnungen waren begehrt und sehr teuer.
Hier sollte Agathe ihr Leben als erwachsener Mensch beginnen. Sie wollte es sich ganz nach eigenem Sinne gestalten. Zwar – auf die Eltern hatte sie Rücksicht zu nehmen, aber Papa und Mama liebten sie ja so sehr, dass sie ihr gewiss in allem entgegenkommen würden, besonders da sie nur das Gute wollte und den schönsten Idealen nachstrebte.
Beichte und Abendmahl hatten doch eine entsündigende Macht! Sie fühlte sich frei und leicht, die Seele war ihr wie abgebadet. Und eigentlich – nun sie erwachsen war, konnte es doch auch nicht so schlimm sein, wenn sie manches wusste, von dem niemand ahnen durfte, dass ihre Gedanken sich damit beschäftigten.
In dem Zimmer mit dem hübschen Blumenerker, das die Eltern neu eingerichtet und ihr als Eigentum übergeben hatten, baute Agathe alle ihre Konfirmationsgeschenke feierlich auf.
Herweghs böse Sturmgesänge waren beim Buchhändler gegen eine Gedichtsammlung mit dem Titel »Fromme Minne« eingetauscht. Martin nannte sie verächtlich nur: die fromme Minna.
Er hatte Heidlings nach abgelaufenem Militärjahr auf seiner Reise zur Universität besucht. Aber Agathe verstand sich nicht mehr mit ihm. Er gewöhnte sich eine rohe Art an, über alles, was sie schön fand, zu höhnen und bei jeder Gelegenheit in ein lautes wildes Lachen auszubrechen. Infolge seines unliebenswürdigen Wesens wurde es Agathe noch zweifelhafter, ob Revolution und Christentum sich vereinigen lasse. Sie studierte mit Eifer die Zeitungen, verschob es aber vorläufig noch, sich bestimmt für eine Partei zu entscheiden. Sie wollte sich erst recht gründlich unterrichten.
… Wie neckisch auf dem Geschenktisch der kleine rote »Liebesfrühling« zwischen den vertrockneten Blumensträußen und den Lederetuis mit den Schmucksachen hervorblickte! Aber über allem thronte als Mittelpunkt der Prachtband: »Des Weibes Wirken als Jungfrau, Gattin und Mutter.« Seine reiche Vergoldung strahlte in einem sanften, mystischen Glanz.
Der jetzige Zustand war ein Noviziat, das der Einweihung in die heiligen Geheimnisse des Lebens voranging. Die einfachsten häuslichen Pflichten führten Agathe ein in den gottgewollten und zugleich so süßen, entzückenden Beruf einer deutschen Hausfrau. Durfte sie am Sonntag ein Tischtuch aus dem schönen Wäscheschrank der Mutter holen und die Bettbezüge und Laken für den Haushalt verteilen, tat sie es mit froher Andacht, wie man eine symbolische Handlung verrichtet.
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In der Bodenkammer unter dem Dach wanderte ein feiner Sonnenstrahl durch die kleine Fensterluke über Spinneweben und Staubwust. Keck und lustig vergoldete er da ein Eckchen und dort ein Zipfelchen von dem alten überflüssigen Plunder, der hier pietätvoll aufbewahrt wurde: Bilder aus dem Haushalt der Großeltern und verblasste Rückenkissen, Walters Schaukelpferd, und Ballschuhe, in denen die Regierungsrätin als Braut getanzt hatte. Sie konnte sich nie entschließen, sich von einem Dinge, das ihr einmal lieb gewesen, zu trennen, und so wanderte der Inhalt der Bodenkammer auch bei jedem Wohnungswechsel der Familie Heidling getreulich mit.
Zu den köstlichsten Andenken vergangener Zeiten begrub Agathe nun ihr Spielzeug, das sie in eine Kiste sorgsam mit Kamphorsäckchen verpackte. Die ganze Miniaturausgabe einer Kinderstube ging so noch einmal durch ihre Finger, bis zu den Wickeln und Windeln, der Badewanne und den Wärmfläschchen, – den vielen zierlichen Gegenständen, die zur Pflege der Allerkleinsten nötig sind und durch deren Handhabung bei fantasievollem Spiel die geheimsten Empfindungsnerven des werdenden Weibes in erwartungsvoll zitternde Schwingungen versetzt werden.
Träumerisch erinnerte sich Agathe, indem sie ihre Lieblingspuppe zum Abschied leise auf die Stirn küsste, des atemlosen Entzückens, mit dem sie oft ihr Kleid geöffnet hatte, um das harte kalte Wachsköpfchen an die winzigen Knospen ihrer Kinderbrust zu drücken