Plötzlich fiel Agathe die Beichte wieder ein, die sie hatte niederschreiben und ihrem Seelsorger übergeben müssen. Ihre Halbheit und Unaufrichtigkeit … und nun wurde es ihr zur Gewissheit, die Schuld des Unfriedens, der diesen heiligen Tag störte, lag in ihr selber. Schamvoll bekümmert starrte sie in das Wasser, das auf der Oberfläche so klar und mit fröhlichen, kleinen goldenen Sonnenblitzen geschmückt erschien und tief unten angefüllt war mit den faulenden Überresten der Vegetation vergangener Jahre.
II.
Die Freundschaft zwischen Agathe Heidling und Eugenie Wutrow bestand schon sehr lange – seitdem sie eines Morgens mit weißen Schürzchen und neuen Tafeln und Fibelbüchern zum ersten Mal in die Schule gebracht wurden und ihre Plätze nebeneinander angewiesen bekamen. Da hatten sie die Bonbons aus ihren Zuckerdüten getauscht, und nun waren sie Freundinnen. Ihre beiden Mamas schickten sie in diese kleine vornehme Privatschule, denn in der staatlichen höheren Töchterschule kamen doch immerhin Kinder von allerlei Leuten zusammen, und sie konnten leicht ein hässliches Wort oder gewöhnliche Manieren mit nach Haus bringen.
Entweder holte Agathe die kleine Wutrow zum Schulweg ab, oder Eugenie klingelte um dreiviertel auf acht Uhr bei Heidlings, wozu sie sich auf die Zehen stellen musste, bis Mama Heidling ein Strickchen an den gelben Messingring des Glockenzuges band. Auch in ihren Freistunden steckten die Mädelchen beständig zusammen. Am liebsten war Agathe bei Eugenie, dort blieben sie ungestörter mit ihren Puppen und Bildchen und Seidenflöckchen, mit ihren Geheimnissen und ihrem endlosen Gezwitscher und Gekicher.
Das große alte Kaufmannshaus, welches Eugenies Eltern gehörte, barg eine Unmenge von Ecken und Winkeln, köstlich zum Spielen und um sich zu verstecken. Dunkle Korridore gab es da, in denen auch bei Tage einsame Gasflammen brannten und dünnbeinige Kommis eilig an den kleinen Mädchen vorüberstrichen – hinter vergitterten, staubigen Fenstern das Komptoir, und darin saß Herr Wutrow, ein verschrumpftes, taubes, grobes Männchen, auf einem hohen Drehstuhl – ein Hof mit ungeheuren leeren Kisten und graue, schmutzige Hintergebäude, angefüllt mit einer Schar Arbeiter und Arbeiterinnen, die in kahlen Räumen Zigarren drehten. Die Fabrik – das Komptoir – die Korridore – alles roch nach Tabak. Der süßlich-scharfe Geruch drang sogar bis in die großen Wohnzimmer des Vorderhauses. Hier ließ Frau Wutrow beständig das Parquett bohnern und die Spiegelscheiben der Fenster putzen, deshalb war es immer kalt und zugig. Aber der Tabaksgeruch blieb trotzdem haften.
Auf Agathe übte das Haus, in dem alles ganz anders war als bei ihren Eltern, eine geheimnisvolle Anziehung aus. Sie fürchtete sich vor den Kommis und den Arbeiterinnen und noch mehr vor Herrn Wutrow selbst, sie hatte eine instinktive Abneigung gegen Frau Wutrow, und mit Eugenie zankte sie sich sehr oft, lief dann schluchzend nach Haus und hasste ihre Freundin. Aber Eugenie holte sie immer wieder, und alles blieb wie zuvor. Eugenie konnte niemals ordentlich spielen. Sie hatte ihre Puppen nicht wirklich lieb und glaubte nicht, dass es eine Puppensprache gäbe, in der Holdewina, die große mit dem Porzellankopf, und Käthchen, das Wickelkind, munter zu plaudern begannen, sobald ihre kleinen Mütter außer Hörweite waren.
Agathe verdankte ihrer Freundin verschiedene Strafpredigten, weil Eugenie sie verführte, mit ihr in allerlei Nebengassen der Stadt herumzubummeln, an den Klingeln zu reißen und dann fortzulaufen, alten Damen, die an Parterrefenstern hinter Blumentöpfen saßen, die Zunge herauszustecken und sich mit Schuljungen zu unterhalten.
Am liebsten hielt Eugenie sich in der Fabrik auf. Sie schlich sich an die Männer heran und streichelte die schmutzigen Röcke der Arbeiterinnen und steckte ihnen Kuchen und Äpfel zu, die sie heimlich aus ihrer Mutter Speisekammer holte, damit die Mädchen ihr dafür Geschichten erzählten. Beständig mussten die Aufseher sie fortjagen – im Umsehen war sie wieder da.
Ja – und Eugenie wusste auch, dass Walter eine Braut hätte, mit der er sich küsste, und wenn die Lehrer das hörten, käme er vor die Konferenz. Meta Hille aus der dritten Klasse wäre sein Schatz – na so eine! – Ja – ja – ja – ganz gewiss, wahrhaftig!!
Hatte Eugenie etwas Derartiges herausgespürt, so schüttelte sich ihr kleines, schlankes Körperchen vor Vergnügen, sie kniff ihre grauen Augen zusammen und blinzelte triumphierend über ihr hübsches Näschen hinweg.
Hei – das war fein!
Eines Sonntags Nachmittags saßen die kleinen Freundinnen auf dem untersten Ast des niedrigen alten Taxusbaumes in Wutrows Garten. Sie hielten ihre Battiströckchen mit den Fingerspitzen und wehten damit hin und her, denn sie waren von einer bösen Fee in zwei Vögel verwandelt und schüttelten nun ihr weißes und rosenrotes Gefieder. Das Spiel hatte Agathe angegeben. Sie wollte immer so gerne fliegen lernen.
Und dann wussten sie nicht mehr, was sie anfangen sollten, um den Sonntag Abend hinzubringen.
Arm in Arm gingen sie an den Beeten mit blühenden Aurikeln oder Stiefmütterchen, an ihren steifen Buchsbaum-Einfassungen entlang. Zwischen den Mauern der Hinterhäuser, die den altmodischen, zierlich gepflegten Stadtgarten einschlossen, wurde es schon grau und dämmerig, während hoch über den Kindern eine rosa Wolke am grünlichen Aprilhimmel langsam verblasste.
»Du«, flüsterte Agathe ganz leise, »es ist doch nicht wahr – das von den kleinen Kindern … Meine Mama …«
»Pfui – geklatscht! Du Petzliese!«
»Nein – ich habe ja bloß gefragt!«
»Ach, Deine Mama … Mütter lügen einem immer was vor!«
»Meine Mutter lügt nicht!« schrie Agathe gekränkt.
Aus dem Streit entspann sich ein heimliches Tuscheln und Flüstern zwischen den kleinen Freundinnen. Agathe rief ein paarmal: »Pfui, Eugenie – ach nein, das glaube ich nicht …«
Hilfeschreie, die aus dem Abendschatten unter dem alten Taxusbaum, wo die kleinen Mädchen zusammenkauerten, hervorklangen, wie eine geängstete Vogelstimme, wenn die Katze zum Nest schleicht. Und vor