In den Religionsstunden gab es leidenschaftliche Disputationen, unbestimmte, aber desto heftigere Auseinandersetzungen, bis Agathe schluchzte, und auch Dr. Engelbert, einem weichmütigen Idealisten, die hellen Tränen in seinen großen Vollbart liefen. Der Glaubensstreit wurde in den Freistunden und bis in die Schlafsäle hinein fortgesetzt. Eugenie stellte sich gleich auf die Seite von Dr. Engelbert. Sie äußerte, dass nur ein beschränkter Verstand an Wunder glauben könne. Agathe bebte in der Furcht, Eugenie möchte sie für dumm halten und ihr die Freundschaft kündigen. Aber die Aussicht in ein ewiges Leben voll Engelgesang und himmlischer Glorie konnte sie der Freundin doch nicht opfern.
Welches Glück empfand Agathe daher, als Eugenie sie eines Abends in ihr Kämmerchen herüberholte und mit Chokolade fütterte. Eine ältere, aus Gleichgültigkeit gegen alles Deutsche ziemlich duldsame Engländerin führte die Oberaufsicht über den Saal. Außer Agathe und Eugenie schliefen nur noch einige neu angelangte Landsmänninnen der Miss darin.
»Agathe, hast Du schon einmal einen Mann gern gehabt?« fragte Eugenie leise.
»Aber Eugenie, wie kannst Du denn so etwas denken«, flüsterte Agathe erschrocken und wurde dunkelrot.
»Du hast kein Vertrauen zu mir«, sagte Eugenie verletzt und schloss die Schachtel mit der Chokolade in ihre Kommode.
»Geh’ nur, ich bin müde.« Sie blies das Licht aus und legte sich zu Bett. »Wenn Du offen wärest, würde ich Dir auch etwas gesagt haben. Aber Du bist immer so versteckt. Du bist eine Tugendheuchlerin. Ja, das bist Du.«
Eugenie drehte sich nach der Wand. Agathe saß zaghaft im Korsett und Unterrock auf dem Bettrand. Aus den anderen Kammern drang ruhiges Atmen und ein zufriedenes Murren, welches die Engländerin beim Schlafen auszustoßen pflegte. Es war behaglich warm im Zimmer und roch nach Mandelkleie und guter Seife.
Agathe entschloss sich endlich, zu gestehen, dass sie ihren Vetter Martin gern habe. Sie wollte sich des Vertrauens der angebeteten Eugenie würdig zeigen.
Eugenie hob den Kopf. »Habt Ihr Euch geküsst?«
Agathe beteuerte, dass es nicht »so« wäre; sie habe ihren Vetter ja nur lieber als die anderen Jungen.
Eugenie streckte sich auf ihrem Lager aus und legte den Arm unter den Kopf.
»Agathe, ich habe geliebt!« sprach sie nach einer Weile dumpf und feierlich.
Agathe schlug das Herz wie ein Hammer in der Brust.
»Und – und – hast Du …?«
»Geküsst –; ach – zum ersticken! Und er mich!«
Eugenie hatte sich aufgerichtet, beide Arme um die Freundin geworfen und presste sie heftig an sich. Agathe fühlte, wie das Mädchen am ganzen Leibe bebte.
»Deshalb haben sie mich ja in Pension geschickt! – Aber es wäre doch zu Ende gewesen. Der Erbärmliche! Agathe – er war mir treulos!«
Sie warf sich in die Kissen zurück, aus den Federn drang ihr ersticktes Schluchzen.
»Wer war es denn?«
»Einer aus unserm Comptoir … Weißt Du – das kleine Zimmer, wo die Kisten mit den Zigarrenproben stehen, wo es so dunkel ist – da war es, da haben wir uns immer getroffen. Ach – wie er schmeicheln konnte, wie er süß war und mich auf seine Knie nahm, wenn ich nicht wollte …«
Eugenie küsste Agathe leidenschaftlich und stieß sie dann fort. »Geh, Du bist ein Kind – ich hätte Dir das nicht sagen sollen.«
Agathe beteuerte, dass sie kein Kind sei.
»Schwöre, dass Du es niemand erzählen willst! Auch nicht Deiner Mutter. Hebe die Finger in die Höhe! Schwöre bei Gott!«
Agathe schwur. Sie war ganz betäubt vor Staunen.
»Er wollte mir nachreisen«, stieß die aufgeregte Eugenie hervor.
»Hierher?«
»Er soll nur kommen! Mit den Füßen stoße ich ihn fort! Er hat mich betrogen! Der Schuft! Mit Rosa hat er’s zu gleicher Zeit gehalten, und die hat alles erzählt, aus Rache! Ich hasse ihn!«
»Eugenie – ach Du arme Eugenie! Ich ahnte ja nicht, wie unglücklich Du warst«, flüsterte Agathe mit scheuer Verehrung.
»Nein, man sieht es mir nicht an«, sagte Eugenie. »Am Tage verstelle ich mich. Aber des Nachts –! Da will ich mir oft das Leben nehmen. Wenn ich dies Chloroform austrinke, bin ich tot. Ich trage es immer bei mir!«
Entsetzt riss Agathe der Freundin das Fläschchen mit den Zahntropfen aus der Hand und beschwor sie unter Tränen, um ihrer Eltern und ihrer Freundschaft willen das Dasein zu ertragen.
Sie stand unter dem Zauber der großen klassischen Leidenschaften – Erinnerungen an Egmont, an Amalia und Thekla taumelten durch ihre Fantasie, die Freundin wuchs ihr zu einer unerhörten Größe durch das Geständnis, dass auch sie »gelebt und geliebt« habe.
Nur das rachsüchtige Fabrikmädchen war ihr störend in dieser heiligen Sache. Übrigens glaubte sie nicht, dass der Commis treulos sei. Er würde sicher bald erscheinen und alles