Wie kann Europa an Glaubwürdigkeit gewinnen? Die Antwort ist: Es muss die Wahrnehmung ändern. Angesagt ist eine inklusive Wahrnehmung; d. h., Europa muss erkennen, dass die Zukunft der arabischen Gesellschaften und der nahöstlichen Nachbarschaft ein Teil seiner eigenen Zukunft ist. Die Stellung Europas im internationalen System des 21. Jahrhunderts wird wesentlich von der Qualität der Beziehungen zu den neuen Ordnungen abhängen, die im arabischen Raum – einschließlich Palästinas – entstehen. Lange genug haben sich die Europäer eine exklusive Wahrnehmung geleistet: Die arabischen Völker, das waren die anderen. Die Interaktion stand im Zeichen europäischer Phobien: vor Instabilität, irregulärer Einwanderung, gewalttätigem islamischem Extremismus; Militanz gegen Israel. Die Lösung der palästinensischen Sache blieb auf der Strecke. Die neue – inklusive – Wahrnehmung bedingt die Hinwendung zu und den Dialog mit jenen, die den politischen Führern Legitimation verleihen; und diese sind das Volk. Zu lange haben europäische Regierungen die Beziehungen zu jenen gepflegt, die Legitimität für sich reklamierten – ohne oder gegen das Volk.
Für die unmittelbare Zukunft Syriens kommt alles darauf an, dass das herrschende Regime bald an sein Ende kommt. Jeder weitere Tag seiner Herrschaft vermehrt nicht nur die Zahl der Toten, sondern vertieft auch die Gräben und den Hass der Syrer untereinander. Die schmutzige Agenda jener, die im Namen des Befreiungskampfes des syrischen Volkes eben dieses Volk mit blutigen Terrorakten quälen, ist zu verurteilen. Aber sie werden den Gang der Geschichte nicht bestimmen. Die Menschen in Syrien brauchen die Perspektive auf eine neue Ordnung, in der sie sich gemeinsam wiederfinden. Mit dem Entstehen dieser Ordnung muss die Versöhnung einhergehen. Noch einmal sei der Dichter zitiert. So Friedrich Schiller im „Wilhelm Tell“: „Bezähme jeder die gerechte Wut/und spare für dass Ganze seine Rache/Denn Raub begeht am allgemeinen Gut/Wer selbst sich hilft in seiner eigenen Sache.“ Die Versöhnung ist die unverzichtbare Voraussetzung des Neuanfangs. Dass die Menschen in der arabischen Welt das „Ganze“ und das „allgemeine Gut“ der „eigenen Sache“ überordnen, das ist unsere Hoffnung.
Ulrich Tilgner
Afghanistan – Politik der Scheinheiligkeit
Afghanistan steht vor einer unsicheren Zukunft. Die Kampftruppen der NATO-Staaten hinterlassen bei ihrem Abzug 2014 ein innerlich zerrissenes Land. In verschiedenen Provinzen herrscht Bürgerkrieg, der in den vergangenen Jahren weder militärisch noch politisch beendet werden konnte. Die politische Elite bilden mehrheitlich ehemalige Kriegsfürsten, die sich während der 13-jährigen Einmischung ausländischer Staaten schamlos bereichert haben. Sie nutzten ihre Machtpositionen, um Teile der internationalen Hilfen in ihren Besitz zu bringen.
Diese weltweit beispiellose Korruption hat die Kluft zwischen den staatlichen Institutionen und der Bevölkerung vergrößert und den unterschiedlichen Gruppen von Aufständischen in die Hände gearbeitet. Da sich ein Ende von Misswirtschaft, Veruntreuung und Bestechung nicht abzeichnet und auch von den ausländischen Gebern errichtete Kontrollinstitutionen abgebaut werden, bedeutet der Rückzug von fremden Soldaten und Entwicklungsspezialisten für die Bewohner der ländlichen Regionen eine Gefährdung der in den vergangenen 13 Jahren erzielten geringen Verbesserungen des Lebensstandards. Zwar werden die internationalen Geberländer ihre zivile Hilfe in einem kleineren Maße weiterführen, doch diese Projekte können die Auswirkungen der Misswirtschaft auf die ländliche Bevölkerung nur abschwächen, jedoch keinen Wirtschaftsaufschwung im Lande auslösen.
Somit steht Afghanistan als ein Beispiel für das Scheitern westlicher Entwicklungspolitik. Trotz des Einsatzes von Hunderten von Milliarden Dollar wurden weder die sicherheits- noch die entwicklungspolitischen Ziele erreicht. Dabei hatte sich die internationale Gemeinschaft nach dem Sturz der Taliban im Krieg im Herbst 2001 als Ziel den Aufbau einer Zivilgesellschaft gesetzt und wesentlich geringere Ausgaben erwartet. Doch bereits die Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn und die kurze Zeit später erfolgende Aufstellung der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe (International Security Assistance Force, ISAF) der NATO-Staaten zeigten, dass die internationale Gemeinschaft die Probleme beim Wiederaufbau Afghanistans unterschätzt und dabei falsche Prioritäten gesetzt hatte.
Unter den 28 afghanischen Delegierten, die an der Konferenz (vom 27. November bis 5. Dezember 2001) teilnahmen, befanden sich keine Vertreter, Anhänger oder Sympathisanten der gestürzten Taliban-Regierung. In einem Stufenplan wurde auf dem Petersberg die Bildung demokratischer Strukturen geplant und der von den USA favorisierte Hamid Karzai als künftiges Staatsoberhaupt bestimmt. Die Entsendung der ISAF-Kontingente verschaffte der NATO zwar ein neues Aktionsfeld und eine aktuelle Legitimität, schuf aber die Voraussetzungen dafür, dass eine verfehlte Aufbaupolitik durch militärischen Einsatz abgesichert und vor einem frühen Scheitern bewahrt wurde.
Diese der Logik der Waffen folgende Politik, die auf ein militärisches Vorgehen setzte und 2001 derjenigen der US-Regierung unter Präsident George W. Bush entsprach, konnte bis zum Abzug der Kampftruppen nicht überwunden werden. Deutschland beteiligte sich vor allem aus Rücksicht auf die USA an einer derartigen Afghanistan-Politik, ohne das eigene Ziel des Aufbaus zivilgesellschaftlicher Strukturen nur ansatzweise verwirklichen zu können. Gleichzeitig war die Koalition von Sozialdemokraten und Grünen aber nicht bereit, genügend finanzielle Mittel für die Erreichung dieses Ziels bereitzustellen. So verpflichtete sich die Regierung, für den Neuaufbau der afghanischen Polizei zu sorgen und die internationalen Bemühungen hierfür zu koordinieren. Für das Programm stellte das Auswärtige Amt jedoch jährlich gerade einmal zwölf Millionen Euro bereit.
In den Monaten nach dem Sturz der Taliban war den Verantwortlichen in Berlin nicht klar, worauf sich Deutschland in Afghanistan einlassen würde. Ihnen fehlte auch der politische Wille, eine eigenständige Politik gegenüber Afghanistan zu entwickeln. Damit war auch die deutsche Politik letztlich vom militärischen Einsatz geprägt, und dessen Kosten betrugen nach den Schätzungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin jährlich bis zu drei Milliarden Euro. Damit kommen die Wissenschaftler des Instituts zu einem anderen Ergebnis als die Parteien, die im Bundestag den Kriegseinsatz am Hindukusch beschlossen und jährlich verlängert haben. Sie folgten den Ansätzen der Bundesregierung, die die Zusatzausgaben für den Bundeswehreinsatz zu Beginn mit 300 Millionen Euro jährlich veranschlagte. Nach jährlichen Steigerungen wurden für das Jahr 2010 eine Milliarde