Es trifft zu, dass viele Menschen in Syrien zögern, sich der Revolte anzuschließen, ja Angst vor der Zukunft haben. Dafür gibt es viele Gründe. Dass nicht jeder Mensch zur Revolte geboren ist, hat auch Albert Camus gewusst, der den Menschen in der Revolte in eine besondere Verantwortung stellte: „Die Freiheit hat nicht in gleichem Maße zugenommen, wie das Bewusstsein, das der Mensch von ihr erlangt hat. Aus dieser Beobachtung kann man nur eines ableiten: Die Revolte ist die Tat des unterrichteten Menschen, der das Bewusstsein seiner Rechte besitzt. Aber nichts erlaubt uns zu sagen, es handle sich nur um die Rechte des Individuums. Im Gegenteil scheint es, als handle es sich um ein mehr und mehr erweitertes Bewusstsein, welches das Menschengeschlecht im Lauf seiner Abenteuer von sich selbst gewinnt.“ Die Revolte wird für Camus eine „erste Selbstverständlichkeit“; so elementar wie das „Denken“ (cogito ergo sum) bei René Descartes (1596 – 1650) als grundlegende Selbsterfahrung: „Ich denke, also bin ich“. In Abwandlung dieses elementaren Befundes formuliert Camus: „Ich empöre mich, also sind wir“. Der Mensch in der Revolte handelt also zugleich für andere; sein Protest reicht über das Individuum – ihn selbst – hinaus.
Der Widerstand des Volkes hat nicht mit dem Ausbruch der Revolte begonnen. An dem Punkt, an dem das Aufbegehren vom individuellen zum gemeinsamen Protest wird – das ist der geheimnisvolle Wesenskern der Revolte in Syrien und in den anderen arabischen Ländern, in denen sich die Menschen gegen die Unterdrückung erhoben haben –; genau diese Ereignisse sind der Beginn der Revolution, die leider in Syrien zum Bürgerkrieg entartete. Immer wieder ist auf die Bedeutung der sozialen Medien in diesem Zusammenhang hingewiesen worden. Das ist natürlich zutreffend. Aber diese Medien sind nur das Instrument, über das sich eine in der Tiefe wirksame Entschlossenheit artikuliert, eine nicht mehr hinnehmbare, eine überlebte Ordnung zu überwinden. Es ist die Gewissheit, dass eine Zeit abgelaufen ist, auch wenn die Machthaber um jeden Preis bemüht sind, die Uhren zurückzustellen. Anders als die Umbrüche in den fünfziger und sechziger Jahren in den arabischen Ländern aber, die von einzelnen Personen und/oder spezifischen Gruppen, insbesondere Militärs, losgetreten wurden, ist die neuerliche Revolte eine Bewegung aus dem Volk. „Wir sind das Volk“; dieses besonders in Deutschland bekannte Motto hat in unzähligen Varianten Männer und Frauen, Angehörige aller Konfessionen und Ethnien im Protest vereint. Was hält sie zusammen? Was verleiht ihnen die Kraft, sich Machthabern entgegenzustellen, die entschlossen sind, mit äußerster Härte alle Werkzeuge der Repression gegen das Volk einzusetzen? Razan Zaitouneh, der 2012 den Ibn-Ruschd-Preis für „Freiheit des Denkens, Innovation und Zivilcourage im arabischen Raum“ erhalten hat, ist sich sicher: „Kein Zweifel, dass die Protestierenden und die Revolution schließlich siegen werden. Wenn wir nicht glaubten, dass wir gewinnen werden, würden wir nicht weiter machen können gegen diese Brutalität des Regimes. Wir würden all diese Verbrechen gegen unser Volk nicht ertragen. Ich bin sicher, dass jeder und jede einzelne unter den Syrern daran glaubt, dass die Revolution am Ende siegreich sein wird.“ Die Menschen spüren, dass die Geschichte auf ihrer Seite ist. Ihr Kampf hat sich von einem individuellen Protest zu einer Sache im Namen aller geweitet.
Auch an dieser Stelle noch einmal die Frage: Haben die europäischen Nachbarn die Tragweite dessen erkannt, was sich in ihrer arabischen Nachbarschaft vollzieht? Auf den gemeinsamen Ursprung des Strebens nach Freiheit wurde bereits hingewiesen. Welche neue Form der Begegnung zwischen Europa und seiner Nachbarschaft entspricht dieser Einsicht? Die Geschichte ist nicht ermutigend. Seit sich Europa und die arabischen Völker Ende des 18. Jahrhunderts unter dem Vorzeichen europäischer Expansion gegenübertraten, hatte diese Begegnung den Namen: „The white man’s burden“ oder „la mission civilisatrice“. Noch nach dem Ersten Weltkrieg mussten die arabischen Völker protegiert oder mandatiert werden, um sie aus zivilisatorischen Niederungen zur Höhe europäischer Standards der Moderne zu führen. Und die Mittelmeerpolitik der letzten Jahrzehnte verkam zu einer ängstlichen Verwaltung des Status quo. Die Erhaltung der bestehenden Regimes wurde der Unterstützung der Kräfte des demokratischen Wandels übergeordnet. In Palästina sah Europa zu, wie die Rechte des palästinensischen Volkes anhaltend ignoriert und verletzt wurden. Noch 48 Stunden vor seinem Fall bot die französische Außenministerin dem tunesischen Diktator Ben Ali an, ihm mit den „bewährten“ französischen Sicherheitskräften beizustehen. Die Menschen, die sich seit dem 17. Dezember 2010 in den arabischen Ländern erhoben haben, haben Europa nicht gefragt; sie haben es ohne Europa getan. Hätten sie Europa gefragt und um Unterstützung gebeten, wären sie wohl abschlägig beschieden worden. Wieder glaubwürdig zu werden, ist mithin ein erster wichtiger Schritt in die Richtung auf die Neubestimmung der Begegnung. Verspielt der Westen in Syrien diese Chance ebenso wie weiterhin in Palästina?
Jedenfalls nährt auch der immer wieder aufflammende Konflikt um Gaza den Zweifel, dass Europas Entschlossenheit, die Beziehungen zu seinen Nachbarn auf der Grundlage der Glaubwürdigkeit zu erneuern, mit den Wandlungen in den arabischen Gesellschaften stärker geworden sei. Es ist fast unerheblich, wer mit dem Schießen und Töten immer wieder beginnt. Und es ist selbstverständlich, dass sich ein Staat verteidigen kann, wenn er angegriffen wird. Wenn aber die Politiker emphatisch festgestellt haben, Israel habe „jedes Recht“,