Das Christentum und den Islam verbindet in hohem Maße die gemeinsame Grundauffassung von der Würde des Menschen. In beiden Religionen steht der Mensch im Mittelpunkt des Schöpfungsakts. Allerdings tun sich dabei bereits unterschiedliche Akzente auf: Die christlich-jüdische Schöpfungsgeschichte betont die Gottähnlichkeit des Menschen. Damit geht die Aufforderung einher, sich die Erde „untertan“ zu machen. Im Koran wird demgegenüber wiederholt die gleichsam physiologische Dimension herausgestellt. So etwa in Sure 3,59: „Jesus ist [was seine Erschaffung angeht] vor Gott gleich wie Adam. Den schuf er aus Erde. Hierauf sagte er zu ihm: Sei!, da war er.“ An anderer Stelle wird von der Zeugung des Menschen aus dem Samentropfen gesprochen. Dieser bescheideneren Selbstauffassung des Menschen geht die Betonung einher, dass der Mensch „Stellvertreter“ (khalifa) sei: Dieser ist der Sachwalter Gottes auf Erden; damit ist er ipso facto auf Allah als Gesetzgeber und „Souverän“ bezogen. Gemein aber ist beiden Religionen wiederum die Betonung der Individualität des Menschen, die mit seiner Geschöpflichkeit (der Mensch wurde von Gott geschaffen) verbunden ist. Aus ihr ergibt sich naturgemäß auch am Ende die Verantwortung vor Gott, insbesondere mit Blick auf das Jüngste Gericht.
Menschsein, Individualität und Verantwortung stehen in beiden Religionen in unterschiedlichen religiösen und weltlichen Kontexten: Während der Islam die Erbsünde nicht kennt, die das menschliche Dasein nicht zuletzt unter dem Aspekt der Erlösung bestimmt, ist hingegen im Christentum der Mensch der Erlösung bedürftig! Ohne sie kann er des Heils nicht teilhaftig werden. Die Erlösung aber ist Ausfluss der Gnade Gottes, die der Mensch nicht zu beeinflussen vermag. Im Extrem findet sich diese Lehre in der Auffassung Luthers im Sinne, dass die Werke nichts seien, die Gnade aber alles sei. Der Mensch kann das Heil nicht aus sich heraus erlangen – was immer er tun mag. Er gibt sich auf Gedeih und Verderb der Gnade Gottes hin. Christus als Gottes Sohn ist als „Erlöser“ das Zeichen einer unendlichen Gnade Gottes.
Jenseits der Gemeinsamkeiten sollen die Unterschiede zwischen der islamischen und christlich geprägten Welt, zwischen Muslimen und Christen, ihren Gesellschaften und ihren Kulturen, nicht verwischt werden. Mit der Feststellung der Unterschiede aber ist zugleich eine Dynamik in Gang gesetzt. Denn heißt nicht verstehen auch manchmal so viel wie Unterschiede erkennen, das andere wie das eigene durch Unterscheiden besser kennenlernen? Das Verhältnis zwischen Kulturen und den ihnen zugrunde liegenden Religionen immer von neuem zu bestimmen muss das Ziel sein – dies um des tiefsten gemeinsamen Anliegens aller Religionen willen, die Würde des Menschen zu bestätigen und um zum Frieden beizutragen.
Um die Würde des Menschen ging es auch, als die Menschen 2010 mit himmelstürmendem Mut und mit Visionen einer gerechten Ordnung in Tunesien auf die Straßen gingen. Hoffnungsvoll begehrten sie nach Freiheit, enthusiastisch sprach man vom „arabischen Frühling“, der jedoch schon bald im Keim erstickt wurde. Gleich einem Flächenbrand scheinen sich die Ideen und Hoffnungen des „arabischen Frühlings“ in der islamischen Welt ausgebreitet zu haben, die über Jahrzehnte weithin unterdrückt wurden. Bis heute folgten nur menschenunwürdige Vergeltungen der Herrschenden. Syrien ist wohl das fürchterlichste Beispiel für die Exzesse des nun fast dreijährigen Bürgerkriegs.
Der Kampf der Syrer in ihrer Revolte hat viele Bezüge. Einer ist das Streben der arabischen Völker nach Unabhängigkeit und Freiheit seit dem Ende des Osmanischen Reiches. Diese erste arabische Revolte, die in den zwanziger Jahren auch Syrien erfasste, wurde vom Imperialismus europäischer Mächte unterdrückt. Die zweite arabische Revolte begann mit der Machtübernahme durch die Freien Offiziere in Ägypten und dem Sturz der Monarchie. Nahezu zwei Jahrzehnte lang veränderte sie die politische Landkarte des arabischen Raumes zwischen Algerien und Jemen. Am Ende verfingen sich die Protagonisten in den Fallstricken ihres überdimensionierten machtpolitischen Ehrgeizes, des Ost-West-Konflikts, des Israel-/Palästina-Konflikts, autokratischer Machtausübung und einer Entwicklungspolitik, die zu Selbstbereicherung und Cliquenwirtschaft sowie zu einer dramatischen Verschärfung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gegensätze führte.
Die dritte arabische Revolte nahm den Faden dort auf, wo ihn die gescheiterten Akteure der zweiten Revolte hatten fallen lassen. Als sich Mohammed Azizi am 17. Dezember 2010 im trostlosen Flecken Sidi Bouzid aus Verzweiflung über die Entwürdigung seiner Person verbrannte, war dies ein Fanal an Millionen von Menschen, den Platz der arabischen Gesellschaften im 21. Jahrhundert neu zu bestimmen. Damit erwies sich zugleich, dass die Revolte ihren Stellenwert und ihre Rechtfertigung aus der Geschichte selbst heraus findet und dass der Aufbruch irreversibel ist. Es gibt keinen Ort in der arabischen Welt, der von der Bewegung nicht erfasst worden wäre.
Ein anderer Bezug der Revolte der Syrer ist in ihrer eigenen neueren Geschichte gegeben. Als die Baath-Partei 1963 – mitten in der zweiten arabischen Revolte – in Damaskus die Macht übernahm, schien damit für einen Augenblick ein Versprechen für ein neues Syrien gegeben zu sein. Aber schon die Art der Machtübernahme durch das Militär warf einen Schatten auf dieses Versprechen. Spätestens mit dem Coup durch Hafiz al-Assad 1970 und der Verabschiedung der Verfassung von 1973, in der die Vorherrschaft der Baath-Partei festgeschrieben wurde, war klar, dass der „sozialistische“ Weg der Entwicklung und die Verwirklichung von Menschen- und Bürgerrechten in unüberbrückbarem Gegensatz stehen würden. Widerstände gegen die Diktatur Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre wurden brutal niedergeschlagen. Am Prinzip der Überordnung der Gewalt der Machtausübung über demokratische Legitimation hat auch Baschar al-Assad festgehalten.
Wo aber stehen wir in diesem historischen Geschehen? Unser Engagement in Europa steht in allzu offensichtlichem Gegensatz zur Tatenlosigkeit der westlichen Politik. Außer Worthülsen, gedrechselten diplomatischen Ausflüchten, fragwürdigen Analysen des „besonderen Charakters“ der Entwicklungen in Syrien ist wenig zu hören oder zu sehen. Sanktionen sind keine wirksamen Maßnahmen, sondern Augenwischerei. Sie sollen den Eindruck erwecken, es geschehe etwas. In Wirklichkeit freilich geschieht fast nichts.
Tatsächlich spannt sich der Bogen des Nachdenkens über das Recht auf Freiheit und Auflehnung gegen tyrannische Macht zwischen Dichtern und Denkern wie Friedrich Schiller und Albert Camus – um nur zwei Namen zu nennen. „Was ist ein Mensch in der Revolte?“, fragt Camus in seinem grandiosen Essay „L’homme révolté“ (Der Mensch in der Revolte, 1951). Seine Antwort: „Ein Mensch, der nein sagt.“ Millionen von Arabern haben „Nein“ gesagt. Und auch Schiller sagt „nein“ im Drama „Wilhelm Tell“ (1804), das wohl geradezu als das Drama des Willens zur Freiheit bezeichnet werden kann. „[…] Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht,/Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,/Wenn unerträglich wird die Last – greift er/Hinauf getrosten Mutes in den Himmel,/Und holt herunter seine ew’gen Rechte,/Die droben hangen unveräußerlich/Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst […]“. Es erübrigt sich, die Parallele zum Ausbruch der arabischen Revolte zu ziehen. Allzu sichtbar ist sie. Diese unveräußerlichen Rechte, die ja nichts anderes sind als die Menschenrechte, herunterzuholen in ihre – die syrische – Gesellschaft. Dass dies nur um den Preis des Einsatzes des eigenen Lebens geschehen kann, haben mittlerweile (2014) 130.000 Menschen in Syrien bezeugt. „Äußerstenfalls“, so Camus, „nimmt er den letzten Verfall hin: den Tod, wenn man ihm jene ausschließliche Anerkennung rauben sollte,