Fahlmann. Christopher Ecker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christopher Ecker
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Современная зарубежная литература
Год издания: 0
isbn: 9783954620906
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Probleme mit der Tür, fester drücken, ting, lassen Sie sie ruhig auf, dann kommt frische Luft rein, ting, Wiedersehen, danke für die Schnecke, ich erreichte die Bushaltestelle verschwitzt und beschämt.

      Ich trat in der Bäckerei Gallinger auf wie ein sprachlicher Vollspastiker. Normalerweise brachte nur Susannes Mutter das Kunststück fertig, die Bildwelten zweier oder mehrerer umgangssprachlicher Redewendungen aufs Allerdümmste miteinander zu verschmelzen. Doch ihr legendärer Ausspruch «fit wie Nachbars Turnschuh» stand meinem Bäckereigestammel in nichts nach. Ob es nicht einfacher wäre, Jasmin alles zu gestehen? Ich kaufe die Schnecke nur wegen dir, ich werfe sie an der Bushaltestelle in die Tonne, denn nachher kaufe ich mir mindestens eine helle Nussecke beim Teuren Arthur, supergute Nussecken gibts bei dem, da kann man alle Schnecken vergessen, die ihr Gallinger euch so zusammenbackt …

      Schnaubend hielt der Bus auf dem Campus. Die Türen zischelten, legten sich mächtig ins Zeug, schließlich teilten sich die dicklippigen Gummiwülste und gebaren eine Wolke junger, wissensdurstiger, lachender Menschen und ein bedrücktes, reichlich ramponiertes Exemplar der Gattung Georg fahlmanniensis L. Der hatte sich als Junge regelmäßig eine eingeschweißte Zeitschrift namens Yps gekauft, unter deren Folie ein kurzlebiges Plastikspielzeug klemmte, das den mysteriösen Namen «Gimmick» trug. Typische Gimmicks waren das Um-die-Ecke-kuck-Fernrohr, die Mondmaske oder der Zauberbumerang, unnötiger Plastikkram, den man selbst oder mit väterlicher Hilfe zusammenbaute und der längst kaputt war, wenn das nächste Yps erschien. Worauf will ich hinaus? Sie ahnen es nicht! Wetten? Nehmen wir einmal an, die Neuere Deutsche Literaturwissenschaft wäre ein Ypsheftchen. Was wäre dann die Sprachwissenschaft? Richtig, sie wäre das Schwarze Gimmick, ein lästiges, sich von Schlaftabletten nährendes Nebenfach, das einem, ohne dass man sich dagegen wehren kann, mitgeliefert wird. Zum Glück machte ich bei Frau Professor Bangmann nur einen Sitzschein. Sie war eine traurige, triefäugige Koryphäe im Verschriften mundartlicher Alltagsgespräche, die ihrer Jahre als Feldforscherin (schiefes Hütchen, Tonbandgerät) mit Wehmut und leidender Flüsterstimme gedachte. Mir grauste es vor dem Seminar, vor neunzig Minuten einschläferndem Wortgeplätscher. Unweit der Haltestelle überquerte ich ein schmales Sträßlein und wurde zu einem Wellenkamm des Studentenstroms, der sich zwischen frisch gestutzten Hecken in südliche Richtung ergoss, um auf Höhe des grauen Betonturms, der so geheimnisvolle Fächer wie Experimentalphysik und Elektrotechnik beherbergte, in ein Delta der tausend Möglichkeiten zu münden, dessen dünne Arme auf staubigen Parkplätzen, vor der Buchhandlung, der Bank, dem Lädchen und den gläsernen Eingangstüren zahlreicher Gebäude versiegten.

       BsssSSS (die freundliche Attacke) – SSSssSSS (um den Kopf herum) – SSSssss (in Richtung ein Uhr davon). Unerschrocken hielt der Käfer auf Bau 31 zu (Rechtswissenschaft) und wurde zu einem taumelnden Punkt vor den Betonwänden der traditionslosen, nach dem Zweiten Weltkrieg in gedankenloser Windeseile aus dem Boden gestampften Universität. Mit einem Mal erschien mir alles unwirklich. Mir war, als hätte ich die wirkliche Welt auf dem Dachboden zurückgelassen. Allein am Tisch mit der mürrischen Schreibmaschine fühlte ich mich sicher; hier auf dem Campus dagegen war ich ein ältlicher, verlegener Geist, unsichtbar für diese grauenhaft jungen Mädels in ihren bauchfreien Shirts und knappen Shorts. Jetzt, wo ich das alles wahrheitsgetreu niederschreibe, wird mir schmerzhaft bewusst, dass das Wichtigste und Erinnerungswürdigste meines Studiums die hellen Nussecken des Teuren Arthur waren. Lausche ich in mich hinein, höre ich noch immer den semitheatralischen Seufzer, mit dem er meine klingelnde Handvoll Kleingeld entgegennahm. Dienstags waren die Nussecken noch weich und köstlich, doch je näher das Wochenende rückte, desto härter wurden sie. Bevor ich jedoch an diesem Tag dem miesepetrigen Edeka-Verkäufer achtzehn Zehnpfennigstücke aus der Kleingeldtasse in die hohle Hand zählte, schlug ich in der Universitätsbuchhandlung meinen Namen im VLB nach, um mich zu vergewissern, dass es mich noch gab, obwohl mich niemand wahr-, geschweige denn ernstnahm. Danach kaufte ich ein Taschenbuch (den Chandler hatte ich letzte Nacht ausgelesen) und kuckte dabei einer Studentin in die Bluse, die sich neben der Kasse nach Philosophischem bückte.

       «Don Juan war Analphabet», hatte Winkler einmal behauptet (oder zitiert?), um, ehe ich widersprechen konnte, mit einem triumphierenden Schlenker des Zigarillos fortzufahren (fortzuzitieren?): «Allein dem Voyeur, diesem Don Juan des Geistes, ist als göttliches Geschenk die Gabe des Schreibens gegeben.» Als Gegenargumente fielen mir damals leider nur ein halbes (Casanova schrieb seine Memoiren erst im Alter – also nach den Frauen) und ein gänzlich indiskutables ein, nämlich eine erfolgreiche, längst verstorbene belgische Romanfabrik, die angeblich von den Autoren, die sie bewunderten (Maugham, Gide, sie selbst), keine Bücher lesen konnte, weil diese ihr viel zu langweilig waren. Freundliche, kleine Brüste, die Studentin richtete sich auf und sah mich böse an, der un-sichtbar Seiende verliert sein un-sichtbares Sein durch das anwesende, weibliche Gewahrwerden seines ihn sichtbarmachenden Beobachtens, vielleicht sehe ich heute Viola, ich hatte sie dienstags schon einmal vor der IB getroffen, lange, rote Haare, Zahnspange, bezauberndes Lächeln, Bärendienst, was für ein Schwachsinn, ich sollte das Skript morgen gleich wieder wegschicken, guten Arsch hat sie auch, hoffentlich wird Jens nicht so wie ich, der biologische Stempel, wenigstens stehe ich im VLB, hat uns allen die Sau ins Fleisch gedrückt, bück dich nochmal, bück dich, bück dich, besucht bestimmt das Seminar über Existentialismus, glotz nicht so, du Bumskuh, wohin mit dem Buch, braucht keiner zu sehen, was ich lese, Inge, vielleicht läuft mir Inge, hat viel größere Titten, übern Weg, und jetzt nichts wie ab nach Nussecktopia.

      Der Teure Arthur seufzte herzerweichend, ließ meine Zehner auf das klebrige Gummi des Warenbands fallen, und ein zählender Finger stieß auf jede einzelne Münze nieder, um sie ungläubig anzutippen, «Bon brauch ich nicht», sagte der Mensch, der ich an der Uni war (und den ich nicht sonderlich mochte), und nahm die backfrische Dienstags-Nussecke aus der Tüte. Draußen, unter der gelb-blauen, das Schaufenster horizontal teilenden Edeka-Banderole überquerte Professor Capart den Parkplatz. Unverkennbar der abgehackte Gang, der beständig aus dem Takt zu fallen drohte. Unverkennbar auch die breit aufgefächerten Hände, die auf Hüfthöhe glattstreichende Bewegungen in der Luft vollführten. Ich trödelte aus dem Laden, verzehrte die Nussecke in der Deckung einer Vogelbeerhecke und steuerte erst auf den Eingang zu, nachdem Capart schon einige Minuten lang in Bau 35 verschwunden war. Doch kaum hatte ich das Gebäude betreten, sah ich ihn im Bilderrahmen der Aufzugskabine. Eine Hand blockierte die Lichtschranke, die andere winkte mir zu. Oh, wie ich diese verhängnisvollen Begegnungen hasste! Einmal hatte Capart urplötzlich am Urinal neben mir gestanden (in Bau 12, wenn ich mich recht entsinne). Krampfhaft hielt ich den Blick gesenkt, drückte, presste und schwieg dabei so verbissen wie ein Sprengmeister bei der Entschärfung einer Nitroglycerinbombe in einem Erdbebengebiet. Vielleicht, hoffte ich in den Tagen nach diesem peinlichen Rendezvous, hat er mich nicht erkannt, denn wir hatten schweigend und versagend nebeneinander gestanden, bis ich kapitulierte, ein Erfolg vortäuschendes Tröpfchenschütteln andeutete, den Spatz wegpackte, die Spülung betätigte und mich davonstahl, um meine Lieblingstoilette in der Musikwissenschaft aufzusuchen. Bäuchel, ein Zechkumpan von Heinz, pflegte fast alles, was er erzählte (und das war nicht viel), mit der Frage «Und was lernen wir daraus?» und der prompten Antwort «Nichts!» zu beschließen, und mit einem ähnlichen Resümee (Wie weit darf eine Metapher gehen?) sollte ich diesen anekdotischen Fussel von der Weste meiner Erinnerung (so weit?) zupfen, und sofort stehe ich wieder, Spannungsmusik, Grabesstimme, im blutbespritzen Aufzug des Todes.

      Professor Capart begrüßt mich herzlich (meine Veröffentlichung in einem angesehenen Verlag imponiert ihm), der Leuchtpunkt der Lichtschranke verlässt seinen braun gesprenkelten Handrücken, wird unsichtbar, und die zugleitende Tür beschert uns eine unerträgliche Intimität. Ich schnüffele verhalten. Die Flügel von Caparts fleischiger, an der Spitze gespaltener Nase überzieht ein Heer schwarzer Mitesser; im rechten Mundwinkel baumelt ein kleiner, trockener Krümel; das linke Auge wirkt ungewöhnlich feucht. Worüber soll ich mit ihm reden, mit diesem unentwegt Horaz zitierenden Langweiler, dieser tragischen Gestalt, die darunter leidet, dass ihre großen Jahre in Tübingen und Brüssel vorbei sind, diese glanzvolle Zeit, in der die Fachwelt ihre Publikationen noch raunend zur Kenntnis nahm? Seit vielen Jahren hat Capart keinen Satz mehr veröffentlicht. Mit stockendem Staunen trägt er seine alten Vorlesungen vor und katapultiert damit die nichtsahnenden Studenten zurück in die siebziger Jahre. Alle ernstzunehmenden Arbeiten bürdet er Polkinger auf. Der würde meine Magisterarbeit zwar als einziger