Fahlmann. Christopher Ecker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christopher Ecker
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Современная зарубежная литература
Год издания: 0
isbn: 9783954620906
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hinter dem sengenden Auge einer unbarmherzigen Sonne klappte ihr Schöpfer das Telefonbuch zu, beendete ihre Existenz, fand sich auf einem Dachboden in der süddeutschen Provinz wieder, es war später Nachmittag, und er wusste, dass er diese verfluchte Hausarbeit niemals schreiben würde. Ich zog der Schreibmaschine die Phrygiermütze (Gott, hatte ich mich bei der Lesung blamiert!) aus schwarzem Plastik über den Kopf und ging nach unten – Susanne hatte Herrenbesuch. Doch ich greife vor. Holzstufen knarrten; die Treppenhauswände waren untapeziert; den Abstieg begleiteten eine in Handhöhe angebrachte Zierleiste (links) und ein Geländer (rechts), dessen Handlauf sich rau wie die Haut eines Dickhäuters anfühlte. In unserer Wohnung lachte Susanne. Vielleicht ist Anja zu Besuch, dachte ich, aber da hörte ich ein Männerlachen. Ich setzte mich auf die Antrittsstufe, Susanne lachte, der Mann lachte, ich kniff mir ausgiebig in den Handrücken, stand endlich auf und steckte den Schlüssel ins Schloss der Wohnungstür.

      Augenblicklich machte sich befangene Stille breit, kroch in sämtliche Ritzen und Winkel meines Zuhauses, kroch in die Taschen der sehnsüchtig auf den Winter wartenden Mäntel an der Garderobe, kroch sogar hinter Spiegel und Weltkarte.

      «Schatz?», fragte ich halblaut, um sie zu ärgern.

      «Hier!», rief Susanne. «Wir sind im Wohnzimmer.»

      Neben ihr auf der Couch saß der weißhaarige Kerl, mit dem sie sich immer in der Edeka-Kantine traf. Vor ihnen auf dem Wohnzimmertisch schaute ein mit Krümeln bedecktes Papptablett aus der Tüte einer mir wohlbekannten Bäckerei. Susanne stellte ihre Tasse neben den Untersetzer. Der Kerl starrte mich mit leerem Gesichtsausdruck an, abwartend, selbstsicher, ohne den leisesten Funken Neugierde, den ich ihm gnädig als Intelligenz ausgelegt hätte. Jemand wie ihm konnte man bestimmt erzählen, Käpten Nero habe bei Trafalgar die belgische Flotte besiegt. Der Schwachkopf sah aus, als käme er direkt aus Spitzbergen. Dort arbeitete er wahrscheinlich in einem Tante-Emma-Laden, denn seine grüblerisch vorstehende Unterlippe und das ausgeprägte Kinn machten es so gut wie unmöglich, nicht an altmodische Registrierkassen zu denken. Käpten Neptun, letterte ich für eine imaginäre Idiotengazette, steckt mit seinem Atom-U-Boot Naupilus im Krakianengraben fest. Von den Ohren sichelten sich schneeweiße Koteletten zu den Mundwinkeln; die Albinohaare hatte er in modischen Gustav-Gans-Wellen zurückgegelt; an eine solche Allerweltsvisage erinnert man sich nur, wenn einem der Besitzer mit einer Machete die Hand abgehackt hat. Ungeheuerlich, dass Susanne für einen solchen Blödmann ihr Haar hochsteckte (normalerweise tat sie das nur, wenn sie freitagabends mit Anja ausging). Aber noch ungeheuerlicher fand ich es, dass mein guter Freund, der sonst so menschenscheue Om, wohlig schnurrend und mit geschlossenen Augen auf dem Schoß des Scheißkerls saß. «Tach», sagte ich ansatzweise diplomatisch.

      «Das ist der Wolfgang», Susannes Hand wedelte unbehaglich in seine Richtung, streckte sich aus, zeigte auf mich: «Der Georg.»

      Die Oberschenkel der beiden berührten sich auf der Couch.

      «Wir kennen uns vom Sehen», sagte der Weiß-Haar-Mann.

      Susanne sah ihn an, sah mich an, sah Om an.

      «Ich geh mal ne Cola trinken», sagte ich. Im Flur rief ich in meiner verlockensten Jetzt-gibts-was-zu-fressen-Stimme nach Om, doch der wollte nichts mehr mit mir zu tun haben. Ich trank eine Dose kalte Cola am offenen Küchenfenster, rauchte eine Senior Service, aschte in den Hof und bedauerte Heinz, der mit Onkel Jörg einen patinierten Eichensarg mit Palmenschnitzung zum Transit trug, Turmuhren, ich dachte an Turmuhren mit Glockenspiel, jede Stunde liefen die mechanischen Abbilder von Onkel Jörg und Heinz mit einem Sarg rund, der Sarg verband Onkel Jörg in einem Winkel von 35 Grad mit Heinz’ gekrümmter Gestalt, ruckartig bewegten sich beide Figuren zum Dröhnen der Glocken, ein allegorisches Bild der Vergänglichkeit, eine ächzende, kreuzkranke Sarguhr, der Transit fuhr davon, ich hob den Blick zur Küchenlampe, die Punkte, das ist Fliegenschiss, zweite Dose. Die klebrige matte Süße der Cola harmonisierte bei Weitem nicht so gut mit der Zigarette wie Espresso. Eine Espressomaschine wäre eine lohnende Anschaffung, eines dieser ewig verschnupften Metallungetüme – aber wo das Ding hinstellen? Ich sah mich um, fand keinen geeigneten Platz, schaute wieder aus dem Fenster, hinter mir tropfte der Wasserhahn. Jemand lachte. Pause.

      Einige Stunden später: Ich erinnere mich mit Wehmut an unsere Küche. Ein Fenster (mein Fenster!) in der Westwand (Hof), ein Fenster (anderes Fenster) in der Südwand (Straße), dazwischen die vollgebröselte Hochebene des Kiefernholztischs, den uns Heinz zur Hochzeit gezimmert hat. Ich lasse den Blick über die Nordwand des erinnerten Raums gleiten: Östlich der Küchenlokomotive, deren einzelne Wagons «Herd», «Spüle» und «Kühlschrank» heißen, führt die nördliche der beiden Türen in den Wohnungsflur; über der bewegungslosen Lokomotive schweben Hängeschränke als Holzgewölk, dazwischen das kalkfenstrige UFO des Boilers. Ein demütigendes Doppellachen ertönt hinter der Tür in der Ostwand, der Tür zum Wohnzimmer; Susannes melodisches Gelächter zerrissen von rauhem Belfern. Lachte Susanne, es tut weh, daran zu denken, warf sie den Kopf in den Nacken. Die Haut spannte sich an ihrer Kehle und vertiefte die Grube zwischen den Schlüsselbeinrändern. Gott sei dank ist Jens unten bei Mutter und macht mit ihr seine idiotischen Hausaufgaben. Ich hatte befürchtet, dass Susanne den Burschen irgendwann einmal anschleppen würde, eine Eisenstange über den Kopf, nimm dies, du Bastard einer räudigen Spitzbergenschlampe! Packt mal an, Freunde, wir legen ihn zu ner dürren Oma in den Sarg. «Die Alte ist verdammt schwer», wundern sich die Sargträger. «Weitermachen!», rufe ich, sie geben Seil nach, der Kasten rumpelt hinab ins Erdloch, Amen. Nur ins Krematorium darf der Sarg nicht kommen, denn von dort nehmen wir alle Särge wieder mit, bevor Onkel Jörgs Mitverschwörer die Toten auspacken und auf großen Pappkartonstücken in den Hänsel-&-Gretel-Backofen schieben. «Eine Schande ist das!», hatte sich Onkel Jörg gerechtfertigt, als wir nach meinem ersten Arbeitstag im Beerdigungsinstitut Gebr. Fahlmann ein Bierchen im Büro tranken. «Man kann doch keinen Kiefernsarg, der 1.228,– DM wert ist, verbrennen lassen!» Ich verstand sofort.

      «Du verkaufst die Särge also wieder, als wären sie ungebraucht?» – «Armin war nie damit einverstanden, aber du musst doch zugeben, dass die Leute dafür bezahlen, den Sarg, den sie gekauft haben, nie wiederzusehen. Sie wollen damit nichts mehr zu tun haben. Und ob der Sarg nun verbrannt wird, oder ob ich ihn an den nächsten Kunden weiterverscherbele, ist doch schnuppe!» Onkel Jörg setzte die Bierflasche an. Er hatte die Angewohnheit, die Augen beim Trinken zu schließen. Er hob die Flasche zum Mund und mit dem ersten Schluck schlossen sich die Rollos der Augenlider, um sich erst wieder zu öffnen, wenn sich der Flaschenhals von den Lippen gelöst hatte. «Ohne Sarg gibts weniger Asche», erklärte Onkel Jörg und öffnete die Augen, «aber die Jungs kippen deshalb was aus ner anderen Urne bei, damit niemand was auffällt. Keine Bange. Die halten dicht.» – «Habt ihr das immer schon so gemacht?» – «Nein.» Im Zeitlupentempo drehte sich ein Bleistift in Onkel Jörgs prächtig behaartem Ohr. «Dein Vater sah das, wie gesagt, etwas anders. Aber», Fingernagel schnippst gelben Krümel von Bleistiftspitze, «du musst doch zugeben …» – «Jörg, ich hab damit keine Probleme. Ehrlich nicht!» – «Na, wenigstens einer, der die Sachen realistisch sieht!»

      Ich nahm mir vor, auch die Sache mit dem Weiß-Haar-Mann realistisch zu sehen, kehrte ins Wohnzimmer zurück und ließ mich unbeteiligt in den Sessel gegenüber der Couch fallen. Der Weiß-Haar-Mann erzählte gerade eine lange und einschläfernde Folge von Anekdoten über einen Igel, der angeblich bei ihm im Badezimmer überwintert hätte. «Immer wenn ich mich geduscht hab, ist er hibbelig geworden. Ist wie ein Bekloppter vor der Dusche hin- und hergerannt, der Igel.» Beim Wort «Igel» huschte ein versonnener Ausdruck über sein Gesicht. «Wenns regnet, kommen nämlich die ganzen Würmer raus.» Er lachte und rümpfte die Nase. Ich wusste nicht, was los war, Pantomime war los, denn sogleich rief er in begeistertem Grusel aus: «Igelscheiße stinkt unbeschreiblich!»

      Ich beobachtete Susanne aus den Augenwinkeln und warf ein: «Wenns regnet, sollte man ‹Igel! Igel!› schreien.» Erst prüft der winterliche Angler die Dicke des Eises mit einem tastenden Fuß, bevor er hinaus auf den See geht, um ein Fangloch aufzubrechen. Keiner zeigte sich von meinem Vorschlag begeistert. «Igel! Igel!», sagte ich leise, und nun war die Zeit gekommen, der Angler lässt die Leine in den eiskalten See hinab, einige gewagte taktische Manöver zu vollführen. Da der Weiß-Haar-Mann meine Frau unentwegt Susi nannte, nannte ich sie nun auch so und