Fahlmann. Christopher Ecker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christopher Ecker
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Современная зарубежная литература
Год издания: 0
isbn: 9783954620906
Скачать книгу
Pfad? «Wir beschäftigen zurzeit», hub Hennig sogleich zu sprechen an, «vierhundert Arbeiter und schätzen, dass im Jahre 1911 das Gebiet der Grabungen in seiner Nord-Süd-Erstreckung einen vollen Breitengrad umfassen wird. Uns bietet sich die einmalige Gelegenheit, das wundersam vielgestaltige Leben in aller Gründlichkeit zu erforschen, das sich hier am Rande des Kreidemeeres abgespielt haben muss. Da trotteten stumpfsinnig jene Ungeheuer mit einem mehr als zwölf Meter langen und bis zwei Meter dicken Hals, mit Beingestellen, die alles gewohnte Maß übersteigen, da tummelte sich die große und kleine Drachenbrut bis hinab zum winzigsten Eidechslein, da zogen Herden gepanzerter Schreckgestalten daher, mit mächtigen Stacheln auf Rücken und Schwanz, da eilten auch kleine, flinke Saurier menschengleich auf den Hinterbeinen erhoben, da flogen andere durch die Luft, da gab es gefürchtete fleischfressende Räuber und Giganten, die ihnen lebend allein ihrer Größe wegen entgehen mochten und die ihren Riesenleib von Pflanzen und kleineren Seetieren ernährten. Kaum darf das herrlich reiche Tierleben des heutigen Afrika sich an Mannigfaltigkeit mit dem messen, das hier vor uns aufsteigt. Wollen Sie?» Dankend lehnte Bahlow ab. Nach dem Frühstück hatte sich Hennig die Taschen mit Kandiszucker gefüllt und kaute und knirschte seitdem unablässig darauf herum. «Für Sie als Entomologen wäre die Urzeit ein schönes Jagdrevier!» Mit diesem Ausruf schwang sich die Vision, die Hennig auf mächtigen, geschuppten Flügeln davontrug, erneut hinauf in die luftarmen Gefilde, wo er die Nachbarschaft der großen Poeten genießen konnte. «Stellen Sie sich nur einmal die fünfzehn Zentimeter langen Schaben der Farnwälder des Karbons vor! Oder Libellen mit sechsundsechzig Zentimetern Flügelspannweite!» Bahlow verspürte das drängende Verlangen, Hennig zu erschlagen. «Das ist ja ungeheuerlich», bemerkte er gepresst. Hennig füllte den Mund mit Kandis und knirschte und redete und redete und knirschte, während die Karawane dem Tendaguru immer näher kam. Wieso gibt mir Kuider einen Stadtplan von Paris mit? Vor der Abfahrt hatte Bahlow den Plan in der verriegelten Schiffskabine überprüft, aber ihm war darauf nichts Ungewöhnliches aufgefallen; er fand die Place de la République … sein Zeigefinger glitt die Rue du Temple hinab … sein Daumen verharrte auf der Île de la Cité, umspült von den Wellen der Seine …

      Damals war ihm zum ersten Mal der Verdacht gekommen, alles könnte ein Scherz sein oder ein fürchterlicher, mit großem Aufwand inszenierter Racheplan, wie er nicht grässlicher in einer von Nägeles kleinen Geschichten zu finden wäre. Bahlow träumte nur noch selten von Nägele; und tat er es, traf ihn beim Erwachen mit voller Wucht die Erkenntnis, dass sein Freund das Zeitliche gesegnet hatte. Natürlich war es schmerzhaft, von einem verstorbenen Freund (oder seinem Vater selig) zu träumen, aber noch schmerzhafter empfand Bahlow das Wissen, dass das eigene, träumende Gehirn der einzige Ort der Welt war, der diesen ehemals lieben Menschen noch Zuflucht bot. Nur in diesen peinigenden Träumen, deren Wiederkehr dunklen Gezeiten folgte, hörte er Nägeles Stimme, nur hier roch er den Qualm des Zigarillos und sah, wie sein Freund beim Reden unentwegt die spitze lange Nase befingerte. Der Traum-Nägele trug ungepflegte Kleidung mit herzförmigen Flickstücken auf den Ellenbogen, verdiente keine müde Mark mit seinen verdrehten Erzählungen, hockte Tag für Tag in seiner Dachstube als General einer Armee leerer Weinflaschen und verblüffte Bahlow mit Erkenntnissen wie: «Der Normalzustand des Menschen ist das In-der-Ecke-Kauern!» Lebte Nägele noch, hätte Bahlow ihm von seinen Ängsten erzählt. «Nägele», hätte er gesagt und mit dem Weinglas einen vagen Bogen beschrieben, «mein einziges Ziel ist es, dem Buch zu entkommen.» Im Geiste rannte er bereits über das staubige Bücherbord, war er doch im benachbarten Band ein gerngesehener Gast der von Herders. Nach dem Tee schlenderte er rauchend über die Wiese, erblickte ihr weißes Kleid zwischen den Bäumen, ein schaukelndes Metronom, höher, Onkel Carl stößt sie an, und höher, Onkel Carl, und höher. «Wie bitte?», fragte Hennig.

      «Ich habe nur laut gedacht», sagte Bahlow und konzentrierte sich wieder auf Hennigs Monolog, am Tendaguru, am Tendaguru, Leben und Wirken einer deutschen Forschungs-Expedition zur Ausgrabung vorweltlicher Riesensaurier in Deutsch-Ostafrika, am Tendaguru, Bahlow erwartete die Ankunft im Lager mit zunehmendem Grausen, am Tendaguru, er würde zu erschöpft sein, um sich höflich betragen zu können, höher, Onkel Carl, höher, der grauenhafte Zustand meines Gesichtes, außerdem bin ich unrasiert, nicht mehr höflich, nicht heute, schlafen, nur noch schlafen. Wahrscheinlich träume ich dann wieder von dem verfluchten Nägele, von Paris, von einer aufgegrabenen Welt, in der aufrecht gehende Maulwürfe hausen, und sie auf der Schaukel, und ich, und ich, ich fang dich auf, spring, ich hab solche Angst, Onkel Carl, spring, mein Engel, spring, und weiter, weiter. Fuß vor Fuß. Wassertrinken. Uff! Wir haben es bald geschafft! Bald, bald, und weiter, weiter, doch als sie am späten Nachmittag ihr Ziel erreichten, stellte Bahlow mit bitterer Resignation fest, dass ihr Ziel noch nicht ihr Ziel war: Zwar hatten sie den Tendaguru erreicht, aber der wollte nun bestiegen werden.

      Qual: Ein schmaler Fußweg wand sich die Ostflanke des absurd niedrigen, bewaldeten Hügels hinauf zu einem Dörfchen, das die Arbeiter mit ihren Familien bewohnten. Hühner flohen mit bösem Gackern, setzen Sie sich, eine angeleinte Meerkatze zupfte an Bahlows Jackenzipfel, nackte Kinder torkelten um die Kiste, auf der ein poghuli saß und das geschwollene Gesicht in den Händen vergrub. Blinzelte Bahlow zwischen den Fingern hindurch, sah er, wie Hennig sich mit einem hochgewachsenen Neger unterhielt, der europäische Kleidung trug. «Kommen Sie, es sind nur noch wenige Meter!» Hennig zog den Entomologen weiter, der sich wiederholt nach seinem Gepäck erkundigte und den Versicherungen, es sei bei Oberaufseher Boheti bestens aufgehoben, keinen Glauben schenkte. «Ich stelle Sie erst im Pavillon vor, dann zeige ich Ihnen Ihre Hütte», sagte Hennig zum dritten Mal. «Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass diese ehemals dem armen Valdsky gehört hat.»

      Bahlow seufzte, das mache ihm nicht das Geringste aus. Wieso auch? Da Valdsky ihn mit seinem Sherry getauft hatte, war es nur folgerichtig, dass er, der Getaufte, die Hütte des Täufers bewohnte. Ob es wohl eine Schaukel hinter der Hütte gab? Und einen Garten? Nach dem Tee, als er rauchend über die Wiese, höher, Onkel Carl, höher, ich fange dich auf. Auf einem Vorsprung unter der vollen Höhe des Tendagurus blieb Bahlow ergriffen stehen. In erfrischender Asymmetrie hatten sich hier eine Handvoll grasgedeckter Bambushütten und ein gutes Dutzend Materialzelte am Hang versammelt und spielten Europäerlager; der Gipfel des Hügels trug einen Fez. «Sehr nett!», schnaufte Bahlow und erinnerte sich, dass die Schönheit der Aussicht schon in Kuiders Dossier lobend erwähnt worden war. Soweit das Auge reicht, hatte Hennig im ersten Jahr der Expedition seiner Braut geschrieben, schließt sich Baumkrone an Baumkrone, ein lückenloses Kleid. Was dort an Eingeborenen-Feldern und -Dörfern, an reichem afrikanischem Tierleben verborgen sein mag, das ahnt das Auge trotz aller Fülle nicht (…). Ein einziger grüner Teppich ist über Berg und Tal, Plateau und Tiefebene gebreitet … «Stimmt genau!», flüsterte Bahlow ehrfürchtig. «Ein einziger grüner Teppich ist über Berg und Tal, Plateau und Tiefebene gebreitet!»

      Hennig sah den Entomologen an und pflichtete ihm nach einer Weile mit einem verdächtig heftigen Kopfnicken bei.

      «Und nach der Vorstellung zeigen Sie mir die Hütte?»

      «Natürlich.»

      «Ich muss mich einen Augenblick hinlegen.»

      «Aber Sie können doch nicht … Stehen Sie auf, Doktor Bahlow!»

      Der verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.

      «Mit Verlaub: Sie können nicht auf dem Boden liegen bleiben!»

      Und ob er das konnte! Aber weil Hennig keine Ruhe gab, erhob sich Bahlow murrend, und Hand in Hand nahmen sie die letzten sanft ansteigenden Meter in Angriff, die das Europäerlager vom Gipfel des Tendaguru trennten. «Willkommen in unserem Wohn- und Speisezimmer!», sagte Hennig. Im Pavillon saß ein dicker Mensch, unschwer als Doktor Janensch zu identifizieren, Kustos am Berliner Geologisch-Paläontologischen Universitäts-Institut und Museum. Janensch schaute hinter einer Zeitung hervor, begrüßte Hennig mit einigen saloppen Bemerkungen und musterte sodann den Entomologen durch eine kleine, randlose Brille. «Guter Gott!» Janenschs Augen weiteten sich in froschähnlichem Erstaunen. «Was haben Sie denn mit Ihrem werten Gesicht angestellt?» Bahlow winkte unwillig ab; der Dicke brach in Gelächter aus, wabbelnde Kinne, wogender Trommelbauch. Auf seiner aufgedunsenen Nase und den Hängebacken entspann sich ein Netzwerk bläulicher Adern und deutete im Zusammenspiel mit den schlaffen, teigigen Gesichtszügen auf einen bekennenden Hedonisten