Fahlmann. Christopher Ecker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christopher Ecker
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Современная зарубежная литература
Год издания: 0
isbn: 9783954620906
Скачать книгу
er legte ihre Schultern frei, küsste feuchte Pentagramme den Rücken hinab, glitt davon. Danach lief Bahlow ziellos durch die kleine Stadt in seiner Uhr. Vor einer Konditorei blieb er stehen, die Luft roch nach Vanille, auf einmal strömte Hitze durch alle Gassen und aus dem zersplitternden Schaufenster stieg der fürchterliche Konditor, in den sich sein Lateinlehrer verwandelt hatte, und flüsterte mit glasierter Stimme: «Ich bin der Dschungel, und ich gebe dir deinen wahren Namen.»

      Wimmernd wälzte sich Bahlow auf die rechte Seite.

      ENDE DES ERSTEN BaNDES

BaND ZWEI

      1Zumindest für einen Brief endete damals die postale Odyssee in (wenn schon klugscheißen, dann richtig!) Ithaka, dem Briefkasten der Familie Fahlmann: Sehr geehrter Herr Fahlmann, ich fürchte, wir sind der falsche Verlag für Ihre Erzählungen. Wir haben nichts Vergleichbares im Programm, und Ihnen wäre mit einer Veröffentlichung letztlich nur ein Bärendienst erwiesen. Mit der Bitte um Nachsicht, Ihre unleserliche Unterschrift. Ich warf die Rätselbotschaften, zu denen ich die Absage zerfetzt hatte – leichbar, Bärend, chsi – in die Mülltonne und machte mich auf den Weg zur Uni.

      Da es immer unwahrscheinlicher schien, jemals vom Schreiben leben zu können, hatte ich vor einigen Semestern beschlossen, mein Studium so rasch wie möglich zu beenden. Die Betonung liegt hierbei auf «möglich», denn der Umstand, dass ich an zwei Tagen der Woche nicht zur Uni konnte, weil ich Särge von hier nach dort schleppte, wirkte sich nicht gerade vorteilhaft auf die Geschwindigkeit aus, mit der ich mich auf die Magisterprüfung zubewegte, eine hinterhältige Rätselfragen ausheckende Eissphinx, die drohend am intellektuellen Horizont aufragte; schwarze Wolken verhüllten ihr imbeziles Antlitz.

      Bei unseren zufälligen Begegnungen im Hausflur wollte Mutter oft wissen, wie lange ich noch zu studieren gedächte. Ich beruhigte sie stets mit vagen Hinweisen auf die nahende Prüfung und stolperte geschäftig zur fragensicheren Wohnung hinauf. Mutter hatte ihr Studium genossen. Sie würde nie verstehen, wie sehr mich die Inkompetenz meiner Professoren ängstigte, die ihren vermutlich verhängnisvollsten Niederschlag in der ausgelassenen Willkür der Prüfungsfragen finden würde. Aber was war schon von Schlafmützen zu erwarten, die ihre langweiligen Vorlesungen aus überholten Nachschlagewerken zusammenkopierten! Weitaus unangenehmer als die Professoren waren jedoch die Kommilitonen, ungern lesende, sich am Hochdeutsch die Zunge brechende, Deutsch auf Lehramt studierende Kretins. Später würden sie Jens unterrichten, keinen Deut fähiger als die Lehrer, die mich während der Gymnasialzeit geplagt hatten: In jedem Kafkatext fanden sie den Herrn Papa, und der Vaterkonflikt prangte ehrfurchtgebietend an der Tafel, bis ihn das nicht weniger törichte Geformel des Mathematiklehrers umnebelte: a = p : (f + el). Bei Trakl musste regelmäßig das großnasige Schwesterchen herhalten, bei Benn waren es die Nazis und die arme Else. Der Ich-Erzähler wurde dummdreist mit dem wehrlosen Schriftsteller gleichgesetzt, und was nicht im Lehrerhandbuch steht, ist natürlich falsch. «Hallo! Bitte mal aufpassen! Das kommt in der Arbeit dran! Hört mir mal kurz zu – auch ihr da hinten in der letzten Reihe! Trochäus hat zuerst die – Moment mal, nein, das ist ein Jambus, Fah-re mit der Ei-sen-bahn, nein, verflixt noch eins, irgendwie ist das beides.» Und während man in mehrstündigen Kursarbeiten die alleridiotischsten Fragen beantwortete, raschelte der überforderte Dussel am Lehrerpult legasthenisch mit der Tageszeitung. Das alles war mir nicht erspart geblieben; das alles würde Jens nicht erspart bleiben.

      Bereits in der Grundschule tyrannisierten sie ihn mit ihren wahnhaften Primitivallüren und ihrer Spannerneugierde. So hatte er einmal als Hausaufgabe für den Sachkundeunterricht seine Eltern «in Ausübung ihres Berufs» (was für mich wie «in flagranti» klang) malen müssen. Susanne setzte er auf einen Gabelstapler und ließ sie gesichtsbreit grinsend und busenlos an einem Regal mit Waschmitteln vorbeidüsen, deren bunte Packungen «Omo», «Dash» und «Weißer Riese» schrien. Mit mir hatte es Jens leider nicht so einfach, und das Bild, das er uns schließlich präsentierte, zeigte mich untätig am Küchenfenster, eine lange, traurige Bohnenstange neben einem Kaffeebecher, der auf dem frei im Raum schwebenden Strich der Fensterbank stand (die Entdeckung der Zentralperspektive stand Jens noch bevor). «Am Fenster!», stöhnte ich, nachdem wir ihn spielen geschickt hatten. Ich legte beide Bilder nebeneinander auf den Wohnzimmertisch. «Er weiß nicht, was ich mache!» – «Woher soll er das denn wissen?» – «Er muss doch wissen, dass ich schreibe!» – «Vielleicht hält er das für keine richtige Arbeit. Die Väter seiner Freunde …» – «Jaja! Schon verstanden! Die sind natürlich Baggerfahrer, Polizisten, Tierärzte, Dompteure oder Was-weiß-ich! Alles gut zu malen. Aber mit mir hat er den oberschwarzen Peter gezogen.» – «Ich werd mal mit ihm sprechen. Er kann dich ja an der Uni malen.» – Und so saß ich einige Tage später hinter einer Schulbank, die an eine aufrecht stehende Schnellhefterklammer erinnerte. Meine Arme lagen brav auf dem Tischstrich, und in der rechten Hand hielt ich ein phänomenal großes Schreibgerät. Ich sah sehr aufmerksam aus. In Wahrheit hat mich die krampfhafte Akademisierung von Literatur nie interessiert.

      Meiner Meinung nach ticken Leute nicht mehr richtig, die das Vorkommen von «und» oder «Huhn» in Goethes Liebeslyrik untersuchen oder umfangreiche Monographien über Neufundländer im Romanwerk Fontanes vorlegen. Auch wenn es ausnahmsweise mal nicht um unds, Hühner oder den blöden Rollo ging, waren die Vorlesungen und Seminare, die ich besuchte, ein lästiges, zeitraubendes Ärgernis, das einem nichts vermittelte, was man sich nicht mit Hilfe eines quergelesenen Fachbuchs binnen weniger Minuten angeeignet hätte. Doch, um nun im Ton versöhnlicher und eine Spur sachlicher zu werden, in diesem Sommersemester besuchte ich meine Seminare (Thomas Manns Romane, Hausarbeit; De Saussure und die Folgen, Sitzschein) mit bewundernswerter Regelmäßigkeit, denn der Weg zur Bushaltestelle führte an der Bäckerei Gallinger vorbei.

      Ich räusperte mich, bestellte eine beklommene Schnecke, hielt dem selbstsicheren, fast abschätzigen Blick tapfer stand, murmelte: «Das ist alles!» und malte mir dabei detailreich aus, dass sie längst, «ich wusste es von Anfang an», in mir, «Sie sehen so gebildet aus», den mysteriösen Verehrer, «und jetzt bitte von hinten», vermutete, der sie mit geistreich-romantischen Briefen beglückte. Unwahrscheinlich. Sie weiß ja nicht einmal, dass ich ihren Namen kenne! Jasmins Kuchenschere biss in eine rosinengespickte Schnecke, hob sie aus der Theke und versenkte sie in einer Papiertüte, die ein leises, altjüngferliches Hüsteln von sich gab, als sie mit einigen geübten Handbewegungen zugefaltet wurde. Habe dich heute wieder gesehen, sieh, ich steige hinab, in deinem Schoß zu vergessen, vielleicht sollte ich ihr einen dritten Brief schreiben, vergessen? Nur nicht! Jetzt nur nichts vergessen! Schleunigst versuchte ich, mir Jasmins Aussehen einzuprägen (vielleicht für einen Gastauftritt in meinem Roman, vielleicht für eine handlungsbegleitende Phantasie im Badezimmer), wusste aber, noch während ich es versuchte, dass als Frucht dieser Anstrengung lediglich gebräunte, kräftige Arme, ein flacher Bauch und grüne Augen Bestand haben würden. Ich lächelte, sie lächelte, sie lachte, ich zitterte, sie legte die Tüte auf die Theke, blies mit einem kecken Vorschieben der Unterlippe ein Haar aus der rechten Wimper und fragte: «Machen Sie eine Diät?»

      «Nein, nein!», antwortete ich schnell und sagte dann etwas sehr Dummes: «Ich bin alleine hier.» Ein Blinder tastet sich durch einen Raum. Von der Decke baumeln Seile. Er muss an einem ziehen. Neunundneunzig Seile sind Attrappen, aber das Hundertste ist an einer Falltür befestigt, auf der ein Amboss steht. Ich zog mit aller Kraft am hundertsten Seil. «Normalerweise», fuhr ich betäubt fort, «komm ich mit Heinz.» Diese Bemerkung ließ mich so viel Boden unter den Füßen verlieren, dass es kaum schlimmer kommen konnte. Doch es kam schlimmer. «Heinz Brenner», hörte ich mich nämlich erläutern, «ein Arbeitskollege. Der wartet sonst immer draußen im …» Hoppsa! «… Auto.» Beinahe «Leichenwagen» gesagt! «Er behauptet zwar immer, dass er nichts wolle …» Stimmt hier der Konjunktiv? Großer Gott! Und wenn er stimmte, käme ihr das nicht reichlich behämmert vor? Wolle? Wollte? «… aber ich bring ihm immer was Süßes mit, und er, der Heinz, meine ich, freut sich wie … wie …» Wie was? Wie wer? Wie wer oder was freut sich Heinz? Nanu? Was mag denn wohl an diesem Seil hängen? Noch ein Amboss? Ich riss an dem herabbaumelnden Seil wie ein betrunkener Glöckner, und mir stürzte, jetzt tot umfallen bitte-bitte, ein heiseres «wie Oskar» in den Mund.

      Probleme mit der Tüte, Wiedersehen, ich hob die