Fahlmann. Christopher Ecker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christopher Ecker
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Современная зарубежная литература
Год издания: 0
isbn: 9783954620906
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Also musste ich ihr Auftreten so lange wie möglich hinauszögern. Bei Außerirdischen sahen alle rot. In den buchlosen Zeiten vor Marsitzky hatte mir mal ein Lektor, dem ich Erzählungen geschickt hatte, empfohlen: «Schreiben Sie doch mal einen historischen Roman!» Ich entgegnete erstaunlich schlagfertig: «In meinen Augen ist ein Roman über das alte Rom genauso phantastisch wie ein Roman über eine Superzivilisation von Methanatmern auf dem Bruzzmond Öbel IV.» Nein, das stimmt nicht. Ich entgegnete nichts. Diese schlagfertige Antwort fiel mir erst später ein. Nein, das stimmt auch nicht. Die Antwort fiel mir eben ein. Weiter! Dachboden, Dachboden, diesmal würde ich alle an der Nase herumführen. Schreiben, schreiben, ich muss schreiben, ein Klopfen: Jens, schon heimgekehrt aus der Schule, beendete meine erfolglose Jagd nach dem ersten Wort, indem er mir einen Brief in die Hand drückte, den Onkel Jörg in seinem Briefkasten gefunden hatte:

      Lieber Herr Fahlmann!

       Vielen herzlichen Dank für Ihre Texte «erste worte», «letzte worte».

       Ich muss sagen, dass sie mir nicht nur ausgesprochen gut gefallen haben, sondern dass sie auch ausgezeichnet dem angedachten Konzept unserer kleinen Anthologie entsprechen. Ich ziehe sogar in Erwägung, Ihre wundersam autopoetische Zeile «oben am jong bösch» zum Titel des Bandes zu machen. Da dies ja auch in Ihrem Interesse liegen dürfte, gehe ich davon aus, dass Sie mit dieser Entscheidung mehr als nur einverstanden sind.

       Ich habe mich sehr gefreut, so bald und so niveauvoll von Ihnen zu hören, und verbleibe mit freundlichen Grüßen aus Frankfurt

       Ihr Rolf Marsitzky

      Nahe des Tauthrons versenkten zwei kräftige Packer des Wangoni-Stammes (ihre Rücken glänzten samten wie Ebenholz) das Teilstück eines versteinerten Oberarmknochens in einer Kiste, doch der gesamte Knochen, ein durch die Imprägnierung von Kalk und Kieselsäure bemerkenswert schweres Prachtstück, das der Gott des Zufalls und der Erosion in vierzehn Trägerlasten zerlegt hatte, würde mindestens sieben Kisten füllen: ein akademisches Geduldsspiel für die daheimgebliebenen Kollegen des Geologisch-Paläontologischen Universitäts-Instituts und Museums. Hennig schloss die Augen, Salzgeruch (die See), Teergeruch (das Tau). Auf die rötlich durchleuchteten Lider fiel bisweilen der wohltuende Schatten eines vorbeihastenden Arbeiters. Die hell schnarchenden Sägen und beharrlich tickenden Hämmer verwandelten den Kai allmählich in ein geheimnisvolles Telegraphenamt mit dornröschenhaft schlummernder Kundschaft, schonend zeigte man Hennig den Schalter, rückte das Formular unter der Feder zurecht – unvermittelt stieß ihn das Gelächter einer Möwe in eine kulissenhaftere Schicht seines Bewusstseins, wo man Dreispitz trug und danach trachtete, die Nichtexistenz der Terra australis zu beweisen. Lange Tage hatte er wartend im Kapitänslogis zugebracht, aber endlich lockte ihn das Freudengeheul der Mannschaft an Deck. Er stürzte an die Reling und erblickte den Landschwarm der Gesellschaftsinseln. In schmalen Einbäumen durchglitten singende Südseeinsulaner das leuchtend klare Meer, die Hämmer und Sägen waren verstummt, Hennig blinzelte, ausgelassenes Gelächter erfüllte den Hafen. «Massa Ennig!», rief einer der Kistenbauer. «Ich habe den verschollenen Europäer (mzungu) entdeckt!» Er zeigte mit dem Hammer auf ein volksfestartiges, tanzendes und jubelndes Tohuwabohu, das sich auf den Hafen zuwälzte.

      Wamuera-Weiber mit Lippenscheiben und tätowierten Gesichtern stießen Kreischlaute aus, Kinder lachten, Suaheli-Männer (Hennig erkannte sie an dem kasmu genannten Ohrschmuck) sangen ein Spottlied, das die dümmlichen Gurrlaute einer brünstigen Taube zu imitieren schien. «Baba kufa», gurrten sie, «mama kufa, nyumba (miomba?) kufa, mimi nimebakia peke yangu tu, tu, tu, tututu.» Tu bedeutet eigentlich nur, aber in diesem Fall ergab das keinen Sinn, und Hennig vermutete eine reine Lautmalerei. Vater ist tot, übersetzte er ins Unreine, Mutter ist tot, mein ganzes Nest (oder der Onkel?) ist tot, nur ich bin ganz allein übrig geblieben, tu, tu, tu, tututu. Wahrscheinlich hieß es nyumba, das Nest, denn was interessierte die einsame Taube das Schicksal ihres Onkels!

      Im Zentrum des Aufruhrs befand sich eine weißgekleidete Gestalt, und als der Menschenkreis kurz aufklaffte, sah Hennig, wie ein halbes Dutzend Wandonde-Weiber (jede einen glitzernden mboli im linken Nasenflügel) einem verschreckten Europäer rhythmisch an den Tropenhelm schlug, «tu, tu, tu, tututu», sangen die Suaheli-Männer dazu, ein nackter Junge entwendete dem Fremden den Kescher, «baba kufa, mama kufa», ein Schuss brachte sie alle zur Räson.

      «Genug!», schrie Hennig in barschem Kisuaheli. Er beauftragte drei Arbeiter, das Gepäck des mzungu sicherzustellen, drei weitere, die aufgepeitschte Menge auseinanderzutreiben, feuerte, den Kolben auf den Oberschenkel gestützt, ein zweites Mal in die Luft, reichte seinem Boy das rauchende Gewehr und ging, die Augen mit der hohlen Hand beschirmend, dem Europäer entgegen. «Mein Name ist Hennig, und falls Sie Doktor Bahlow sind», dieser nickte matt, «darf ich Sie hiermit als Entomologen unserer Expedition in Afrika willkommen heißen. Ich sollte Sie eigentlich schon gestern abholen, aber nun ja …» Tu, tu, tu, tututu. «Es ist mir überaus peinlich», ratlose Geste, «aber wir haben den Dampfer erst heute Vormittag erwartet.» Schwebte, brannte, drehte sich: Auf dem verkohlten Holzscheit stand: Dr. Edwin Hennig. Kenne ich, dachte Bahlow, und aus einer glimmenden Schicht seines Gedächtnisses schoben sich weitere Teilstücke des an Bord verinnerlichten Dossiers, geboren 1882, Assistent am Berliner Geologisch-Paläontologischen Universitäts-Institut und Museum, rotglühende Schriftzeichen auf schwelendem Holz. «Ich bin, ich bin der …» Bahlow starrte seinen Retter an. Strohblond, braungebrannt wie ein Zigeuner, schwärmerische Gesichtszüge. Harmlos, hatte ihn Kuider am Quai du Port genannt, und das war wohl das treffende Epitheton, denn in Hennigs Auftreten lag eine anrührende, fast jungenhafte Ernsthaftigkeit. «Wir scheinen am Tendaguru ein kleines Problem mit dem Datum zu haben», erläuterte er mit unsicherem Lächeln. «Der liebe Gott hat uns wohl einen Tag geschenkt. Gestern ist bei uns heute, wenn Sie verstehen, was ich meine», Bahlow verstand seit geraumer Zeit gar nichts mehr, «und was in Lindi heute ist, ist am Tendaguru erst morgen. Ich hoffe, Sie hatten keine allzu großen Unannehmlichkeiten!» Unannehmlichkeiten? In gedankenverlorener Begeisterung packte Bahlow die Hand des anderen, schüttelte sie und hielt sie ungebührlich lange fest, wobei er wiederholt seinen Namen sagte und Hennig verständlich zu machen suchte, wie sehr dessen Hand an die eines ihm bekannten Masseurs erinnerte, und wie diese sich anzufühlen pflegte, sobald das warme Minzöl in die Haut eingezogen war. Bahlow gab Hennigs