Diese eher primitiven Verfahren wurden in jüngerer Zeit durch das computergestützte Molecular Modeling weitgehend verdrängt. Hier berechnen kommerziell verfügbare Softwarepakete die Standardbildungsenthalpien von Molekülen, die man zuvor am Bildschirm konstruiert hat, auf der Grundlage von Methoden, die wir in Kapitel 10 kennen lernen werden. Diese Verfahren unterscheiden z. B. auch zwischen Konformationsisomeren. Die Differenz zwischen den berechneten Standardbildungsenthalpien der Konformere von Methylcyclohexan beträgt zum Beispiel 5.9 bis 7.9 kJ mol–1, was mit dem experimentellen Resultat (7.5 kJ mol–1) sehr gut übereinstimmt (die kleinere Standardbildungsenthalpie gehört dabei zur äquatorialen Konformation). Eine derart gute Übereinstimmung zwischen experimentellen und berechneten Werten findet man allerdings recht selten. Während die Programme fast immer richtig reproduzieren, welches Konformer stabiler ist, können sie den Zahlenwert der Energiedifferenz in der Regel nicht besonders exakt vorhersagen. Die zuverlässigste Methode zur Bestimmung von Standardbildungsenthalpien ist nach wie vor die Kalorimetrie, meist mithilfe von Verbrennungsenthalpien.
2.2.3 Die Temperaturabhängigkeit der Reaktionsenthalpien
■ Das Wichtigste in Kürze: Die Temperaturabhängigkeit einer Reaktionsenthalpie ist durch das kirchhoffsche Gesetz gegeben.
Die Enthalpien vieler wichtiger Reaktionen wurden bei verschiedenen Temperaturen bereits experimentell bestimmt. Wenn solche Tabellendaten jedoch nicht zur Verfügung stehen, ist man auf die Bestimmung von Reaktionsenthalpien aus Wärmekapazitäten und der Reaktionsenthalpie bei einer anderen Temperatur angewiesen (Abb. 2-20). Wärmekapazitäten lassen sich in vielen Fällen genauer bestimmen als Reaktionsenthalpien. Wenn die benötigten Informationen zur Verfügung stehen, liefert das im Folgenden beschriebene Verfahren deshalb exaktere Resultate als eine direkte Messung der Reaktionsenthalpie bei erhöhter Temperatur.
Aus Gl. (2-23a) folgt, dass sich die Enthalpie eines Stoffs bei Erwärmung von T1 auf T2 von H(T1)auf
(2.35)
Abb. 2.20 Zum kirchhoffschen Gesetz: Bei zunehmender Temperatur nimmt die Enthalpie sowohl der Ausgangsstoffe als auch der Produkte zu, aber in unterschiedlichem Maße. Die Enthalpieänderung hängt dabei jeweils von der Wärmekapazität der Substanzen ab. Die Änderung der Reaktionsenthalpie spiegelt die Unterschiede in den Enthalpieänderungen wieder.
ändert (unter der Voraussetzung, dass im betrachteten Temperaturbereich kein Phasenübergang stattfindet.) Diese Gleichung können wir auf alle an der Reaktion beteiligten Stoffe anwenden; folglich gilt für die Änderung der Standardreaktionsenthalpie
wobei
(2.36b)
Gleichung (2-36a) wird als kirchhoffsches Gesetz bezeichnet. Man kann normalerweise in guter Näherung annehmen, dass ΔRCp nicht von der Temperatur abhängt; wenigstens gilt dies in hinreichend kleinen Temperaturbereichen. Obwohl die einzelnen Wärmekapazitäten durchaus variieren können, gilt dies in viel geringerem Maß für ihre Differenz. Wenn die Temperaturabhängigkeit der Wärmekapazität berücksichtigt werden soll, verwendet man Gl. (2-25).
Beispiel 2-6 Eine Anwendung des kirchhoffschen Gesetzes
Die Standardbildungsenthalpie von gasförmigem H2O bei 25 °C beträgt –241.82 kJ mol–1. Berechnen Sie ihren Wert bei 100 °C. Gegeben sind die folgenden molaren Wärmekapazitäten bei konstantem Druck: H2O(g) 33.58 J K–1 mol–1, H2(g) 28.82 J K–1 mol–1,O2(g) 29.36 J K–1 mol–1. Nehmen Sie an, dassdie Wärmekapazitäten nicht von der Temperatur abhängen.
Vorgehen Wenn
Nun müssen wir noch die Reaktionsgleichung formulieren, die stöchiometrischen Koeffizienten ablesen und
Antwort Die Reaktion lautet
Daraus folgt
Übung 2-7
Bestimmen Sie die Standardbildungsenthalpie von Cyclohexan bei 400 K aus den Werten aus Tabelle 2-6. [–163 kJ mol–1]
2.3 Zustandsfunktionen und totale Differenziale
In Abschnitt 2.1.2 haben wir gesehen, dass Zustandsfunktionen Eigenschaften sind, die nur vom aktuellen Zustand der Systeme und nicht von seiner Vorgeschichte abhängen. Beispiele für Zustandsfunktionen sind die Innere Energie oder die Enthalpie. Physikalische Eigenschaften, die vom eingeschlagenen Weg zwischen zwei Zuständen abhängen, nennt man Wegfunktionen; Beispiele sind die Arbeit und die Wärmemenge, die einem System auf dem Weg zu seinem Endzustand zugeführt oder aus ihm entnommen werden. Beide Größen beschreiben nur die Art und Weise, wie der Zustand erreicht wurde, nicht die Natur des Zustands selbst.
Mithilfe der mathematischen Eigenschaften von Zustandsfunktionen können wir weit reichende Schlüsse hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen physikalischen Eigenschaften ziehen. Wir werden Beziehungen entdecken, wo wir sie unter Umständen überhaupt nicht erwarten. Die praktische Bedeutung der Resultate liegt in der Möglichkeit, aus Messwerten verschiedener Eigenschaften zu Werten für eine andere, vielleicht schwer zu messende Eigenschaft zu gelangen.
2.3.1