Das Torhaus. Helga Dreher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Helga Dreher
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783749722150
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haben uns vielleicht einen Schreck eingejagt!“

      Alma schaute Moni John an, atmete tief durch und sagte, „Ich bedanke mich bei Ihnen allen. Gut möglich, dass mich sonst niemand gefunden hätte, und alles ganz böse für mich ausgegangen wäre.“ Für einen Moment schloss sie die Augen, drückte aber gleichzeitig fest Frau Johns Hand. Dann sah sie fragend von Moni zu Benjamin Lenk.

      „Ah, der Anwalt … Den haben wir dann auch noch ausfindig gemacht. Kriminalistisch, sozusagen. Holger, müssen Sie wissen, hat diese komische Sucht. Er muss sich Autonummern merken, kann irgendwie nicht anders. Das nervt oft mächtig, wenn er Nummern heruntersagt, die früh hier ihre Kinder an der Schule ausladen oder in der Wendeschleife falsch parken. Dabei bleibt’s aber, er zeigt niemanden an, wenn Sie das vermuten. Also, was wollte ich sagen …“

      Anwalt Lenk hatte inzwischen mehrfach zum Reden angesetzt, kam aber nicht zu Wort.

      „Ja, also, Holger erinnerte sich natürlich noch an die Weimarer Nummer vom BMW, mit dem Sie und er“ – Kopfwendung zu Benjamin Lenk – „gestern weggefahren waren. Na, und mein Sven wusste, wie man es per Telefon schafft, zu einer Autonummer den passenden Besitzer zu ermitteln. Schlau der Junge, muss man schon sagen. Leider schwänzt er gerne, heute war’s wieder Englisch. Von wegen Freistunde! Na, andererseits ein Glück!“

      „Nach dem Anruf habe ich unseren Sekretär Jörg in die Spur – oder besser, auf Ihre Spur – geschickt. Er hat im Hotel nachgefragt, Sie hatten Ihren Koffer deponiert, aber nicht abgeholt. Dr. Rottloff hat Jörg sofort mit dem Auto hinuntergeschickt, der Koffer wurde geholt – und hier ist er. Wir in der Kanzlei sind ebenfalls sehr froh, dass Ihnen nichts ganz Schlimmes geschehen ist, Frau Winter.“

      Alma dankte ihm, blickte danach aber ratlos von einem zum anderen. „Und nun? Wie soll es weitergehen? Ich habe mich ja noch nicht entschieden. Und der Arzt will mich mit meinem gebrochenen Arm nach Hause schicken.“

      „Na, damit hat er aber sicher nicht heute und morgen gemeint! Ich vermute, Sie haben hier bis zum Ende der Woche ein sicheres Bett“, war von der Tür her zu hören.

      „Sieglinde! Du bist auch hier?“ Moni John drehte sich ruckartig um, sprang auf und umarmte Almas Bettnachbarin stürmisch. „Wir haben gestern erst von deinem Unfall gehört, man schaut ja nicht jeden Tag rüber in den Laden. Heute oder morgen Abend wären wir besuchsmäßig angerückt, ist mit Horst abgesprochen. Hast ja auch Glück gehabt, oder?“ Sie musterte Sieglinde von oben bis unten und konnte von ihr gerade noch daran gehindert werden, ein Hosenbein anzuheben.

      „Ja, großes Glück. Wenn ich mir vorstelle … Aber du – du rauschst hier auf die Station, führst wie immer das große Wort und übersiehst deine zweitbeste Freundin!“

      „Beste, Sieglinde, beste! Aber das alles hier sind längere Geschichten, da trinken wir mal lieber ein gutes Glas Wein zusammen, wenn du wieder in Schuss bist. Und Sie sind herzlich eingeladen, Frau Winter.“

      Benjamin Lenk sah zur Tür und erhob sich. „Ich denke, Sie brauchen jetzt tatsächlich etwas Ruhe, Frau Winter. Bitte machen Sie sich keine Gedanken wegen des Hauses. Wir haben eine ausreichende Frist, in der Sie sich entscheiden können. Ich fände es übrigens sinnvoll, wenn Sie nach Ihrer Entlassung aus der Klinik noch ein paar Tage in Weimar bleiben könnten. Rufen Sie bitte an, wenn es soweit ist. Oder auch vorher.“

      Alma bemerkte, dass Moni John aufmerksam und wohl nicht ohne Neugier zugehört hatte. Jetzt stand sie ebenfalls auf, drückte Sieglinde noch einmal fest und reichte Alma die Hand. Und wenn Alma etwas brauche, solle sie Moni nur anrufen, die Nummer schreibe sie ihr schnell noch auf, außerdem könne sie sich vertrauensvoll an Sieglinde halten. Die sei schon damals immer Klassenbeste gewesen, wie viele Jahre ist das jetzt her, Sigi, 25? Oder noch länger? Sieglinde hätte Moni aber immer abschreiben lassen und so eine bis heute lebendige Freundschaft begründet. Also, wie gesagt, sie komme dann wieder vorbei, um nach dem Rechten zu sehen, morgen Abend oder spätestens übermorgen. Jetzt müsse sie aber wirklich los, gegen Mittag wäre richtig Betrieb am Kiosk, da käme Holger ohne sie in Stress. Herr Lenk würde sie doch sicher bis zum Busbahnhofskiosk im Auto mitnehmen?

      ❧

      Alma schloss erschöpft die Augen. Ihr unerwarteter Besuch war gegangen und plötzlich wurde ihr bewusst, dass es für sie keinen „erwarteten“ Besuch geben würde. Sie wusste niemanden, den sie jetzt anrufen und ihm oder ihr sagen konnte: Ich hatte einen Unfall. Ich liege im Krankenhaus. Es geht mir ganz gut. Aber es hätte schlimmer kommen können. Ja, natürlich kannst du mich besuchen. Komm bitte gleich.

      Sie hatte niemanden, der gleich kommen würde.

      KAPITEL 6

      Der Anruf hatte sie in ihrer WG in Göttingen erreicht, abends, als sie gerade aus der Bibliothek zurückgekommen war. Jule, ihre Mitbewohnerin, hatte ihr den Hörer hingehalten, „Für dich, Alma, jemand von daheim.“ Almas leichte thüringische Sprachfärbung war anfangs Gegenstand gelegentlicher gutmütiger Hänseleien in der WG gewesen, die allerdings, fast unbemerkt von allen, bald wieder aufgehört hatten.

      „Sind Sie Alma Winter? … Frau Winter, hier ist die Polizeiinspektion Pößneck. Ich muss Ihnen eine sehr traurige Mitteilung machen. … Ja, es geht um Frau Marlene Winter aus Neustadt. Sie sind in Frau Winters Papieren als nächste Verwandte angegeben … Ihre Mutter? Das dachten wir uns … Ein Unfall ist geschehen, ja, Verkehrsunfall … heute Morgen … aber wir haben Sie nicht eher erreicht, unter Ihrer Nummer ist niemand ans Telefon gegangen. Ja, Ihre Mutter ist ins Krankenhaus gekommen, das heißt, sie war auf dem Weg … Glauben Sie mir, es ist alles ganz schnell erfolgt, Notarzt, Rettungswagen, der Hubschrauber war angefordert. … Nein, der Notarzt konnte nichts mehr tun … sehr schwere Verletzungen, vor allem im Kopfbereich … Ich gebe Ihnen jetzt eine Telefonnummer, an die Sie sich wenden können. Haben Sie einen Stift und Papier zur Hand? … Können Sie jetzt schreiben? … Sind Sie allein, oder kann Ihnen jemand helfen? … Ich möchte Ihnen noch mein Beileid aussprechen.“

      Mehr als fünf Jahre waren seit jenem Spätherbst vergangen, an dem Alma von einem Tag auf den anderen ohne Familie war. Zurückblieb mit dem Gefühl, nur noch ein halbes Leben zu haben.

      Sie schaute zur Decke über ihrem Krankenhausbett und wusste, dass die Bilder von damals wiederkehren würden. Die Fahrt nach Hause, betäubt von der Nachricht, ohne Genaueres zu wissen. Keine Vorstellung davon, was sie jetzt tun musste. Völlig unvorbereitet.

      Diesem archaischen Vorkommnis, dem Tod eines Menschen, war sie vorher niemals wirklich nahe gewesen.

      Ihre Großeltern waren im Abstand von mehreren Jahren gestorben, als sie Kind war. Sie erinnerte sich nur an Omas Beerdigung, bei Opa war sie noch sehr klein gewesen, vielleicht hatte sie nicht mitgedurft. Bei Oma gab es eine Trauerfeier, der Pfarrer hatte eine Rede gehalten, die sie sehr schön fand. Später erzählte ihre Mutter, Oma hätte alles genau aufgeschrieben gehabt: Wie sie die Trauerfeier haben wollte, was der Pfarrer sagen sollte, welche Lieder gesungen werden sollten, überhaupt nicht traurig hätte der Text im Kuvert, in dem auch das handgeschriebene Testament lag, geklungen. Alma fand das damals fast ein wenig erschreckend. Jahre später jedoch bewunderte sie ihre Oma für ihre fröhliche Weisheit, die sie vom Leben ohne Umstände auf den Tod übertragen hatte.

      In Neustadt angekommen, hatte sich alles irgendwie fast ohne ihr Zutun geregelt. Frau Menzel aus Mamas Haus war da, als sie kam, und nahm sie in die Arme. Machte Kaffee und fütterte Alma mit Kuchen und anschließend mit kleinen Sandwichvierteln – Käse, Gurke und Tomate – für die sie im Haus berühmt war. Ging mit ihr zum Bestattungsunternehmer und hielt sie fest gedrückt, als Alma ihre Mutter ein letztes Mal anschaute und ihre Hand fasste. Tröstete sie später am Abend, unterstützt von Herrn Menzel, mit einem Glas Rotwein. Half ihr alle Wege zu gehen, die zu gehen waren, alles zu tun, was dem Anlass gemäß war. Half Alma, alles so weit richtig zu machen.

      Zur Polizeidienststelle ging Alma allein. Sie ließ sich den Unfallhergang schildern, notierte sich den Namen des Unfallverursachers. Ein Mann Mitte dreißig, im schnellen Wagen, überholte vor einer Kurve, vertraute wohl auf den starken Motor, das Übliche, hundert Mal in der Zeitung gelesen.

      Alma quälte sich lange