Sieglinde hatte ihren Horst dabei liebevoll, aber auch ein wenig spöttisch angesehen, so, als dachte sie, „Junge, mach halblang, in einer Woche bin ich wieder daheim und alles ist wie sonst.“ Aber sie hatte nichts dergleichen gesagt, stattdessen ihre Hand von seiner umschließen lassen, sich intensiv nach seinem Arbeitstag erkundigt und daraufhin auch genauesten Bericht erhalten. Offensichtlich war Horst als Außendienstmitarbeiter für einen Nahrungsmittelkonzern tätig und suchte Supermärkte, Großküchen und Restaurants auf. Dann wurde von einem Laden erzählt, und dass alles liefe, man brauche sich fürs Erste keine Sorgen zu machen. Alma konnte gar nicht anders als zuzuhören und manchmal hinüberzuschauen, wenn sie auch versuchte, die meiste Zeit diskret aus dem Fenster zu sehen. Dann drehte Horst seinen Stuhl ein wenig, so dass er beide Frauen im Blick hatte.
„Und wie geht es Ihnen, Alma? Sigi hat mir schon am Telefon von Ihrem Unfall erzählt – Glück gehabt, kann ich da nur sagen.“ Alma musste den Hergang erneut schildern, und als sie an die Stelle kam, wo Moni und ihr Rettungsteam, Sohn Sven eingeschlossen, in Aktion traten, dröhnte das Zimmer von Horsts voller und lauter Begeisterung. „Na, das ruft doch nach einer richtigen Feier, wenn es euch beiden wieder besser geht! Ordentlich was auf den Rost und ein schönes Bier, ich freu mich schon!“ Ein Blick seiner Frau ließ ihn hinzufügen: „Ihr Mädels kriegt natürlich Sekt, oder was ihr so wollt.“
Später schaute Sieglinde spitzbübisch herüber zu Alma und las deren Gesichtsausdruck richtig. „Du siehst, ich habe ein Energiebündel als Mann. Aber irgendwie ergänzen wir uns wohl gut. Ich bin eher – wie soll ich sagen – eben gelassener, auch ruhiger. So sind wir nicht ein ganz so explosives Gemisch. Übrigens, die Party findet statt, darum kommst du nicht herum. Vorher lassen wir dich nicht zurück nach Berlin.“
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Am Abend, unter dem Licht der Bettleuchten, kam eine fast gemütliche Stimmung auf. Alma war es gelungen, unter Aussparung des linken Arms zu duschen, und sie lag erfrischt im Bett. Sie hatte von der Schwester noch einmal einen Tropf mit einem Schmerzmittel bekommen, der jetzt fast leer war, und fühlte sich gut. Sieglinde hatte eine ganze Kanne Früchtetee für beide geholt und zwei Wassergläser halb vollgegossen. „Leider kein Rotwein, aber auch rot. Hier ist Gelegenheit, mal so richtig gesund zu leben …“, sie hielt inne und kicherte, „na gut, gesund ist nicht das richtige Wort für unsere Lage, aber lass mal, es kommen auch wieder bessere Zeiten.“
Alma lehnte sich zurück und hörte zu, wie Sieglinde erzählte, von den ersten Ehejahren, den Kindern; die Tochter, jetzt sechsundzwanzig, hat Betriebswirtschaft studiert, wie ihre Mutter übrigens, und eine gute Arbeit in einer Weimarer Firma, etwas Technisches machen sie da, Gussteile. Verheiratet ist sie auch, aber noch keine Kinder, da ließen sich die jungen Frauen ja heute Zeit, schade eigentlich, eine junge Mutter ist doch was Schönes, sie, Sieglinde, war damals gerade mal zwanzig; der Sohn kam vier Jahre später, vorigen Monat 22 geworden, wollte nicht studieren, da redete man gegen Wände, hat Elektroinstallateur gelernt und arbeitet in Hessen, kommt aber jedes Wochenende; die Freundin ist noch hier, wie lange noch, weiß keiner …“
„Du bist Betriebswirtin? Menschen wie dich bewundere ich immer, die mit Zahlen umgehen können, meine ich.“
Ja, irgendwie sei ihr das schon immer leichtgefallen. Ökonomie habe sie studiert. Nur, von Nutzen sei es ihr nach der Wende nicht lange gewesen. Der Betrieb habe noch ein, zwei Jahre überlebt, dann seien sie alle in die Arbeitslosigkeit verabschiedet worden. Sie habe sich danach zwar immer gekümmert, Weiterbildungen, Computerkurse, Kommunikationstraining, unzählige Bewerbungen – aber ohne Erfolg. Sie sei eben überqualifiziert, wäre ihr gegenüber einmal unter der Hand angedeutet worden. Dann habe sie sich kurzerhand selbstständig gemacht, mit einem Blumenladen, der sich übrigens genau gegenüber dem Haus befände, in dem Alma verunglückt war.
„Du hast einen Blumenladen?“
„Warum nicht? Ein Blumenladen, liebe Alma, ist eine überhaupt nicht despektierliche Einrichtung. Das Einzige, was dort geschieht, ist der Verkauf von Blumen und verwandten Produkten, wie Topfpflanzen, Vasen, Grußkarten …“
„Du weißt, liebe Sieglinde, dass mein Ausruf eher Überraschung als Geringschätzung ausdrücken sollte!“
Alma schaute Sieglinde an und beide begannen gleichzeitig zu lachen. Alma konnte nicht wieder aufhören, Tränen traten ihr in die Augen und ein Hustenanfall rüttelte sie durch.
„Soll ich klopfen kommen?“
„Bloß nicht, das habe ich schon immer gehasst!“
„Dann nimm einen Schluck vom Roten, aber vorsichtig.“
Alma beruhigte sich langsam und trank einen Schluck Tee. „Und wie hast du das mit dem Laden gemacht?“, fragte sie gespannt. „Ich meine, man braucht doch Kapital, und dann muss man auch etwas von der Materie verstehen, oder?“
„Also, wenn man Ökonomie studiert hat und sein Fach versteht und auch noch liebt, dann ist man auf alles, oder fast alles, im Leben vorbereitet – berufsmäßig, meine ich. Geld hatten wir ein wenig, bekamen auch einen Bankkredit, und der Laden befindet sich im Haus, das Horsts Eltern gehört und in dem wir auch wohnen. Na, und Blumen binden, das kann man schon lernen. Bei mir war es dann ‚Learning by doing‘, da bin ich mal ehrlich. Aber erstens hatte ich für Blumen und Grünpflanzen schon immer ein Faible, manche haben mir sogar einen grünen Daumen nachgesagt. Dann gibt es Bücher zum Thema, wahre Massen davon. Und drittens bin ich, glaube ich, kreativ. So eine kleine Auswahl von Blumen und etwas dekoratives Gestrüpp bringt mich richtig in Schwung, da darf kein Strauß genau wie der andere aussehen.“
„Denen mit dem grünen Daumen sagt man doch nach, dass sie mit ihren Pflanzen sprechen. Tust du das auch manchmal?“
„Mit den Blumen weniger, die stehen abgeschnitten im Wasser, da hilft gutes Zureden wenig, höchstens mal Nachgießen. Aber bei den Grünpflanzen – ganz ehrlich, wenn niemand im Laden ist, spreche ich die eine oder andere schon mal an. So wie: ‚Also, dich kauft niemand, wenn du so weiter machst‘, oder ‚Sehr schön, weiter so, da können wir im Preis bald ein paar Euro nach oben gehen!‘“
„Also, wenn ich dann im Torhaus wohne, komme ich oft zu dir, mal sehen, ob das alles stimmt!“
Alma sah Sieglindes fragenden Gesichtsausdruck und begann zu erzählen: von ihrem Alleinleben mitten im Szeneberlin, von den Briefen des Gerichts und der Anwaltskanzlei, von der ersten Hausbesichtigung, vom Erbe – alles sprudelte aus ihr heraus, als müsste sie es endlich loswerden, oder besser, mit jemandem teilen. Dass dieser Jemand eine Frau war, die sie gestern um diese Zeit noch nicht gekannt hatte, schien in diesem Moment unwichtig.
„Und jetzt fragst du dich, was du tun sollst!“
„So ist es.“ Alma seufzte und schaute Sieglinde ratlos an. Für einen Moment wurde ihr die skurrile Situation bewusst: Sie, Alma, breitete ihr Leben, oder einen Teil davon, und ihr Problem vor einer fast Fremden aus. Doch als sie Sieglinde ansah, zog diese gerade ihre Stirn in tiefe Denkfalten, schaute einen Moment an die Decke und dann zu Alma.
„Lass uns das Ganze mal systematisch angehen. Wie ist die Sachlage, was spricht dafür, was dagegen.“ Sieglinde fasste alles, was ihr Alma eben etwas ungeordnet erzählt hatte, erstaunlich gut gegliedert zusammen. Sie hielt sich nicht mit Spekulationen auf, zum Beispiel wie oder warum Onkel Ewald das Haus gekauft hätte oder weshalb es ihr, Alma, vererbt worden sei. Stattdessen holte sie aus ihrer Nachttischschublade ein Notizbuch und einen feinen Drehbleistift, schlug eine leere Seite auf, zog frei Hand einen Quer- und einen Längsstrich und fragte Alma, was für oder was gegen die Annahme des Ewaldschen Erbes spräche.
„Ich wohne doch in Berlin.“
„Abgelehnt. Man kann umziehen.“
„Ich habe keine Ahnung von Architektur oder von historischen Gebäuden.“
„Hm,