Alma hatte das Verfahren gegen den Unfallverursacher mit betrieben. Sie war als Nebenklägerin aufgetreten, als sie erfahren hatte, dass der Mann notorisch für seine riskante Fahrweise war, Punkte in Flensburg gesammelt und Bußgelder gezahlt hatte und doch nicht aufzuhalten gewesen war. Nach wenigen Wochen war er vom Unfall genesen, Glück gehabt. Monate später kam über seinen Anwalt eine Entschuldigung, die Alma unbeantwortet ließ. Als der Prozess nach eineinhalb Jahren endlich stattfand und mit einer Bewährungsstrafe endete, blieb Alma ratlos und ohne Trost zurück.
Später hatte sie mit Menzels die Wohnung aufgelöst, statt eines Sperrmüllcontainers aber einen Lagerraum gemietet und fast alle Sachen ihrer Mutter dorthin gebracht. Der alljährliche Termin der Mietzahlung im November verursachte ihr fast körperliche Schmerzen.
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„So, meine Damen, Ihr Mittagessen. Frau Winter, heute haben wir Ihnen ein Menü zugeteilt, für morgen können Sie wählen. Der Speiseplan liegt auf dem Tisch, Frau Roth kann ihn ja dann mal rüberreichen. Zur Toilette können Sie selbst gehen, aber ansonsten möchte der Oberarzt, dass Sie im Bett bleiben, wenigstens bis zur Abendvisite.“
Es gab Kartoffeln, Gemüse und eine Bulette. Alma bereitete es Mühe, vom Teller etwas in ihren Mund zu befördern, obwohl die Schwester das Tablett mit dem Essen auf einen praktischen Drehtisch gestellt und ihr diesen gleichsam auf der Brust platziert hatte. Aber sie war hungrig, und nach einigen Fehlversuchen gelang ihr das Essen immer besser. Wie gut, dass es meinen linken Arm statt des rechten erwischt hat, dachte sie. Die Bulette allerdings hatte es im beinahe direkten Vergleich mit Holgers feinem Exemplar von gestern schwer.
Sieglinde Roth saß an dem kleinen Tisch in der Zimmerecke und ließ es sich schmecken. „Das Essen ist wirklich nicht schlecht“, sagte sie, als sie ihren leeren Teller beiseiteschob und sich dem Nachtisch zuwandte. „Und, ehrlich gesagt, ist es die einzige Abwechslung, die man als Patientin hier hat. Also ist die Devise, genießen und schön aufessen, wir wollen ja möglichst bald wieder auf die Beine kommen. Na ja“, meinte sie und richtete den Blick auf ihr verbundenes Bein, „in meinem Fall erst mal auf eins davon.“
„Hm, rote Grütze mit Vanillesoße, das habe ich schon so lange nicht mehr gegessen. In der Mensa gab es immer roten oder grünen Wackelpudding, aber das ist überhaupt nicht dasselbe.“ Alma war nun ebenfalls beim Dessert angelangt und erinnerte sich unwillkürlich an die Zeiten ihres Lebens, in denen rote Grütze mit Vanillesoße schon einmal das Größte gewesen war – an das Mittagessen im Speiseraum der Schule zum Beispiel, oder an die ersten selbstständigen Kochversuche zu Hause, nachmittags, ehe ihre Mutter von der Arbeit kam.
Das Schulessen in der großen Pause, fiel ihr jetzt wieder ein, war zunächst immer eher ein sportliches denn ein kulinarisches Ereignis gewesen. Man musste sich schon beim Verlassen des Klassenzimmers beeilen, um für den Sprint über den Schulhof bis zum Speiseraum eine gute Ausgangsposition zu erreichen. War man erst einmal an der Schlange im „Keller“ angelangt (der Speiseraum war im Kellergeschoss der Schule mit Zugang von außen untergebracht), war das Schlimmste geschafft. Alma war spurtstark und oft die erste der Mädchen ihrer Klasse, wonach sich alle anderen natürlich vor Alma anstellten, ganz gleich, wie schnell oder langsam sie waren. Die Lehrer sahen das nicht gern, aber es gab Traditionen, gegen die allerhöchstens eine gemeinsame pädagogische Front angekommen wäre – diese allerdings kam oft und aus vielen Gründen ins Bröckeln. Und irgendwie hatten am Ende der Pause alle ihr Mittagessen aufgegessen und es hatte, wenn Alma jetzt zurückdachte, fast immer gut geschmeckt.
Nach dem Essen holte Sieglinde Roth Kaffee für beide, schwang sich wieder auf ihr Bett und schaute zu Alma herüber. „Ich finde, Sie sollten jetzt wirklich ein wenig ausruhen. Besuch ist von meiner Seite vor dem Abend nicht zu befürchten. Machen Sie doch einfach die Augen zu und entspannen Sie sich. Oder haben Sie wieder Schmerzen? Dann klingeln wir nach der Schwester.“
„Nein, im Moment fühle ich mich ganz gut.“ Alma hatte sich in eine bequeme Lage gekuschelt und lächelte zu ihrer Nachbarin hinüber. „Danke, dass Sie mich unter Ihre Fittiche genommen haben, Frau Roth.“
„Kein Problem. Und außerdem“, lächelte diese verschmitzt, „meiner Freundin Moni gegenüber möchte ich schon ein gutes Gewissen haben. Und unter ihren Fittichen sind Sie offensichtlich schon vorher gelandet!“
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Alma erwachte mit leichtem Kopfschmerz, aber dem beruhigenden Gefühl, behütet und umsorgt zu sein. Bald würde der Arzt kommen und ihr Genaueres über ihren Zustand sagen. Es würde Abendessen geben, am nächsten Morgen Frühstück und dann wieder Mittagessen. Im Nachbarbett lag Sieglinde Roth, mit deren Hilfe sie die Fährnisse des Krankenhausalltags würde bewältigen können. Man hatte ihr den Koffer mit ihren Sachen gebracht, mit Schlafanzug, Waschzeug und ihrem Handy. Nicht, dass sie dringend jemanden anrufen müsste, aber immerhin.
Von ihrem Bett aus konnte sie durch ein großes Fenster, das fast die gesamte Wand einnahm, nach draußen sehen. Sie schaute auf eine große gepflegte Rasenfläche, nach hinten leicht ansteigend und tiefgrün von den Regenfällen der vergangenen Tage, mit einigen Laubbäumen, deren Blätter jetzt im Licht der Nachmittagssonne grün und golden leuchteten. Die gepflegten Wege waren belebt, Patienten wohl mit ihren Besuchern. Mehrere Gipsbeine wurden, gestützt von Krücken, spazieren geführt, Rollstühle von Ehemännern, Ehefrauen oder erwachsenen Kindern geschoben, geschwächte Körper von gesunden geführt.
Am Rand der Rasenfläche sah sie einen kleinen Spielplatz mit Klettergerüst und Schaukel. Sie beobachtete einen Vater mit zwei kleineren Kindern, Vorschulalter, schätzte sie. Der etwas ältere Junge turnte verwegen am Klettergerüst und winkte seinem Papa einen Moment später heftig zu. Sicher rief er etwas wie: „Guckt mal, ich bin gaaanz oooben!“ Der Vater hielt gerade das jüngere Kind, ein Mädchen in bunter Latzhose, die Haare zu zwei seitlichen Schwänzchen gebunden. Sie kletterte jetzt ebenfalls eifrig an den Seilen aufwärts, schaute dabei immer wieder zum Bruder und rief vielleicht „Ich komm jetzt hoch, ich kann das aaauch!“ Alma freute sich mit den Kindern und ihrem Vater, bis ihr einfiel, dass die drei wohl nicht ohne Grund am krankenhauseigenen Klettergerüst spielten. Ob die Mutter gerade auf einer der Stationen lag? Möglicherweise war sie ernsthaft krank. Alma wandte ihren Blick erschrocken weg vom Spielplatz zum tiefblauen Himmel, an dem nur am Horizont einige sehr zarte Wolkenschleier zu sehen waren.
Ihr Blick wanderte vom Himmel draußen wieder nach drinnen und blieb an der hellblau gestrichenen Wand ihres Krankenzimmers hängen. Dort, gegenüber den Betten und über dem kleinen Tisch, hatte man ein Bild aufgehängt, einen Druck sicherlich, Aquarell, zart gemalte Landschaft, ein Bach mit knorrigen Weiden, ineinanderfließende Farben, Blau dominierte auch hier. Sicherlich sollte das Bild angenehm auf die Patienten wirken, den Augen und den beunruhigten Sinnen einen Haltepunkt geben.
Alma ließ ihre Gedanken schweifen und langsam schob sich ihr Problem wieder in den Vordergrund. Was sollte sie tun in Sachen Erbschaft und Torhaus?
Sie sah jetzt, dass sie diese Frage nur im Zusammenhang mit ihrer gegenwärtigen Lebenslage beantworten konnte. Und die war keineswegs so, dass man für Veränderungen nicht offen sein konnte.
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Vor einigen Monaten war sie aus England zurückgekommen, wo sie mehrere Jahre lang gelebt und gearbeitet hatte. Sie war nach Berlin gezogen, weil sie gelesen hatte, alle zögen heute nach Berlin, dort fände statt, was das Leben interessant und aufregend macht. Dort seien Kultur, Szene und sogar Landschaft um die Stadt herum. Dort fände man in einem Kiez mühelos sein Zuhause, auch wenn man fremd sei, oder Ausländer.
Tatsächlich hatte sie in der Greifswalder Straße eine kleine Wohnung gefunden, in einem der alten Mietshäuser, das saniert worden war. Sogar ein Fahrstuhl war eingebaut worden, den Alma oft benutzt hatte, um in ihre Wohnung – genannt Appartement – im fünften