AUFRECHT IN BERLIN. K.R.G. Hoffmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: K.R.G. Hoffmann
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783748262367
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er ihr zu viel aus einem gerade gelesenen Buch. Sie gab ihm aber immerhin einen flüchtigen Kuss auf die Lippen, den er als die Krönung und den Beginn des Miteinandergehens gedeutet hat. Sein Herz war von Sylvia voll erobert. Es war sein erster schmerzlich empfundener Liebeskummer, als sich Sylvia einige Tage später von seinem Schulfreund Jürgen ins Kino nach Westberlin einladen ließ. Einen Vorteil hatte diese kleine Begebenheit dennoch. Sylvia hatte mit dem kurzen, aber für alle Klassenkameradinnen sichtbaren Interesse an ihm den Bann gebrochen. Roland war nunmehr auch für andere Mädchen von Interesse – trotz seiner rotblonden Haare.

      Den ersten Liebeskummer half ihm seine platonische Verehrung einer Frau mindern, die mit ihrem Mann im sechsten Stock seines Wohnhauses lebte. Diese Frau war eine Künstlerin – Malerin. Über alle Maßen schön, entsprach sie wohl exakt dem idealen Frauenbild, welches jeder Mann zu jener Zeit hatte. Hätte es Misswahlen in der Stalinallee gegeben, wäre sie mit Abstand zur Königin gewählt worden. Etwa 1,60m groß, die dunkelblonden, über die Brust reichenden langen Haare zum Pferdeschwanz gebunden und diesen nach vorne übergeworfen, betonte sie ihre Figur durch enge Rollkragenpullover. Diese Schönheit fragte bei den Eltern an, weil Roland immer so besonders freundlich zu ihr sei, ob sie es erlaubten, wenn er ihr Modell sitzen würde. Roland war hin und weg, als die Eltern das an ihn weitergaben. Malen wolle sie Roland in Öl als „Jungen Pionier“ mit weißem Hemd und Halstuch. Ihr lichtdurchflutetes Atelier befand sich auf dem Dachgarten. Da saß Roland Stunde um Stunde. Er wagte sich nicht zu bewegen, konnte aber lange in ihre grünlich-gemaserten Augen schauen, wenn sie an ihm für die Pinselstriche Maß nahm. Nach der Sitzung träumte er sich abends, mit ihr vor Augen, in den Schlaf. Den Altersunterschied von etwa 10 Jahren empfand er als ungerecht und tragisch. Er brachte nicht den Mut auf, sie zu fragen, ob er ihr einen richtigen Kuss geben dürfe….

      Im Hausaufgang in der vierten Etage wohnte Rolands Spielfreund Peter Der war zwei Jahre älter, aber nur eine Klasse über ihm, weil er erst mit sieben Jahren eingeschult worden war. Peter besuchte die Oberschule. Rolands Eltern begrüßten und förderten diese Freundschaft. Peter glänzte mit besonders guten schulischen Leistungen. Er wurde zu familiären Unternehmungen, auch auf Urlaubs-Sommerreisen mitgenommen. In dem Alter war es prima, bei Freunden schlafen zu dürfen. Weil Peter sich sein Zimmer mit seinem fünf Jahre jüngeren Bruder teilen musste, schlief er gerne bei Roland. Die Geburtstagsfeiern wurden zusammengelegt – Peter hatte zwei Tage vor Roland Geburtstag. Rolands Eltern war Peters Zielstrebigkeit vorbildhaft. Sie hofften sehnlichst, Roland würde ihm nacheifern.

      Schule war von Montag bis Sonnabend, genau wie die Arbeit der Eltern. Aus der Schule kam Roland samstags gegen elf Uhr nach Hause. Seine Eltern trafen gegen 13 Uhr ein. Dann ging es zu dritt, und wenn Peter dabei war, zu viert mit dem Fahrrad ab nach Motzen. Eine Strecke von ca. 50 km war zu bewältigen. Abends zuvor hatte jeder sein Rad auf Funktion überprüft und die unverzichtbaren Sachen auf den Gepäckträgern verzurrt. Ziel war ein ehemaliger Ton-Abbau, dessen Gelände großräumig von Nudisten genutzt wurde. Das Wasser war so klar, dass noch Loren aus dem ehemaligen Betrieb des Ton-Abbaus in der Tiefe sichtbar waren. In den zwanziger Jahren, im kulturell ins Grenzenlose explodierenden Berlin, hatten sich Sympathisanten textilfreier Bewegung gefunden. Diesen Leuten, als Gruppe ohne politisches Korsett, stand damals nur die kleinbürgerliche Voreingenommenheit gegenüber. Mit ihr gab es abseits, südöstlich vor Berlin im Märkischen gelegen, keine Probleme. So markierten und kultivierten sie das Revier nach ihrem Dafürhalten. Sowohl die Ideologie der Nationalsozialisten als auch folgend die der Kommunisten interpretierten die Freikörperkultur als „Guten Betrag für Körperkultur und Sport im Sinne der Volksgesundheit“. Die meisten Vereinsmitglieder hatten ihren Familien kleine Hütten gebaut, die wiederum im Laufe der Jahrzehnte untereinander weitergegeben wurden. Für Gäste oder neue Mitglieder gab es ein großes Gemeinschaftshaus. Das war eine riesige hohe Bretterhalle mit einer großen Veranda. Hier suchten sich die einzelnen Familien ihre Liegestätten für das Wochenende in gezimmerten Holzbetten mit Strohsäcken. Es konnten auch eigene Zelte im Freien aufgeschlagen werden. Gegessen wurde das von zu Hause Mitgebrachte. Warme Mahlzeiten entstanden über einer gemauerten Feuerstelle, die sich seitlich der Baracke befand. Auf dem Gelände wurde Volleyball, Völkerball oder Tischtennis gespielt. Ein stabiler Holzsteg, der von der Hauptbadestelle in den See führte, diente als Anlauffläche für kunstvolle Kopfsprünge ins Wasser. Sonntagabends wurde immer zeitig losgefahren, um bis zum Einbruch der Dunkelheit wieder in der Stalinallee anzukommen.

      Die Frauenbrüste, die Roland bei der FKK zu sehen bekam, hatten nicht die geometrisch gerundeten Formen, wie er sie von den Bildern aus „Zehn kleine Negerlein“ in Erinnerung hatte. Was ihm seither textilverkleidet, als Skulptur geformt oder auf Zelluloid vor Augen kam, brachte inhaltlich keinen Zweifel. Mit den Brüsten seiner Mutter (Mädchenkörbchen), die nicht herunterhingen, konnte er leider nur wenige vergleichen. Die Brüste der Frauen und Mädchen, so viel stand fest, erscheinen in ihrer Natürlichkeit vielfältig. Enttäuschte Erwartung wollte er es nicht nennen, aber zuvorderst stand bei starker Neugier, ultimativ „Schönes“ in seiner Vorstellung zu modellieren. Das Verhältnis von Schwerkraft und Fülle im Einklang mit festem Gewebe verhalf ihm später zum Idealbild. Die Frauen bedienten sich erfreulicherweise reicher Auswahl textiler Büstenhalter - über Jahrzehnte spannendes Entblättern. Peters damalige Erkenntnis über die Formen der Frauenbrüste, nicht beschwert durch das Ideal aus „Zehn kleine Negerlein“, verlief spontan. Ihn erquickte die Vielfalt der Formen, was ihm Festlegungen ersparte.

      Der Umgang der Nackedeis untereinander war natürlich. Peter und Roland tauschten neugierig aus, mit welchen der in etwa gleichaltrigen Mädchen sie gerne engeren Kontakt haben wollten. Da war ein Mädchen namens Rosemarie, das gerne mit ihnen schwimmen ging. „Zufällig“, aber doch häufig berührten sie sich im Wasser. Beim spielerischen Untertauchen berührten sie sich dabei überall und Roland nahm jede dieser Berührungen sinnlich auf. Unter Wasser schwammen sie so aufeinander zu, dass die Körper über ihre volle Länge beim aneinander Vorbeigleiten Kontakt hatten. Rosemarie lachte. Roland und Peter konnten entweder nicht lange genug und so schnell wie möglich wieder mit Rosemarie ins Wasser. Natürlich wollten beide mit Rosemarie auch in Berlin Kontakt haben. Mit Roland klappte eine Verabredung zuerst. Als Treff hatten sie die „Milchbar Berlin“ in der Stalinallee gewählt. Das war eine Tagesbar im Schick einer Eisdiele, die es schöner auch nicht im Westen der Stadt gab. Das Interieur bildete die über die Grenzen hinweg bestimmende Moderne jener Zeit. Von den Nierentischen mit dazu passenden bunten Stühlen und thematisch im Stil bemalten Wänden bis zu den aus Hochglanzkarton bestehenden Eiskarten - alles war aufeinander abgestimmt. Die Eiskarte war so besonders, dass sie sofort nach der getroffenen Auswahl vom Personal wieder eingesammelt wurde. Als Souvenirs begehrt, wurden sie den Besuchern aus dem Westen von der Bedienung, "unter dem Tisch", gegen D-Mark verkauft. In den ersten Wochen nach ihrer Eröffnung standen dort Schlangen auf Einlass wartender Gäste. Der Bekanntheitsgrad der “Milchbar Berlin“ war als Treffpunkt vergleichbar mit der 1969 auf dem Alexanderplatz errichteten Weltzeituhr. Rosemarie und Roland tranken hier Milchshakes. Sich bekleidet gegenüber sitzend waren sie einander fremd und etwas verkrampft.

      Die Fahrten in das FKK-Gelände nach Motzen gingen nur über zwei Sommer. Peter hatte später, als die Fahrten nach Motzen nicht mehr gemeinsam stattfanden, mit der schönen Rosemarie in Berlin Kontakt aufgenommen. Aber es kam auch zwischen ihnen noch nicht einmal zum händchenhaltenden Spazierengehen.

      Rolands Eltern pachteten ein Grundstück, mit einem eineinhalbgeschossigen Holzhäuschen, in Ostberlin sagte man "Datsche" (nach dem russischen Datscha) am Rande Berlins, in Waldesruh. Da es sich um ein Waldgrundstück handelte, bedurfte es keiner großen Pflege für ein gefälliges Aussehen. Ein bisschen Ernte von Obst, Gemüse und Blumen erforderte hingegen immense Mühe im glazial-sandigen Boden. An dem Holzhäuschen wurde innen und außen ständig repariert, ausgebessert und sogar angebaut. Rolands Vater war handwerklicher Allrounder. Von ihm hat sich Roland Einiges abgeschaut. Angefangen beim Geradeklopfen von Nägeln, denn neue Nägel gab es selten zu kaufen, bis zum Reparieren sämtlicher mechanischer Verschleißteile hat Roland später so ziemlich alles wieder gangbar machen können. Das erklärte sich weniger aus einer überdurchschnittliche Begabung, sondern war eher der Tatsache zuzuschreiben, dass er, dem Stand der Technik entsprechend, nur logisch dem Kraftverlauf folgen musste. Dort, wo die Kraftweitergabe unterbrochen war, lag der Fehler! Der war sichtbar oder/und messbar, im Gegensatz zu den heutigen