„Det Kofferradio bekommste wieder, wenn dein Vater mit dir uffs Revier kommt!“
Es blieb ihm nichts anderes übrig, als dem Vater zu beichten, dass er „Schlager der Woche“ gehört hätte. Auf dem Polizeirevier angekommen, erklärte der eine Polizist-Genosse dem anderen Genossen, Roland sei das Kofferradio wegen “Gedanken groben Unfugs“ abgenommen worden. Sein Vater reagierte anders als erwartet. Er kommentierte die schlichte Begründung des Genossen Polizisten nicht. Das Kofferradio, welches wieder zurückgegeben worden war, gab der Vater ohne weitere Auflagen oder Belehrungen an den Sohn weiter.
Wie inzwischen in fast jeder Familie im Haus, gab es natürlich auch bei Roland ein Fernsehgerät. Abends, manchmal bis neun Uhr, schaute die ganze Familie gemeinsam. Er durfte auch, wenn er die Hausaufgaben erledigt hatte, alleine fernsehen. Ausdrücklich war ihm verboten, auf den Westsender umzuschalten. Dem Verbot schenkte er keine Beachtung, weil er es als unangebrachte Bevormundung empfand. Da er nachmittags gegen 14 Uhr zu Hause war und die Eltern regelmäßig immer gegen 18 Uhr eintrafen, schaute er also Westfernsehen. Das Geräusch des Fahrstuhls und das Geklapper der Fahrstuhltür auf der Etage ließen ihm immer genug Zeit, um schnell auf den Ostsender zurückzuschalten, bevor die Eltern das Wohnzimmer betraten. Eines Tages fragte ihn sein Vater unmittelbar nach seiner Heimkehr:
„Hattest du gerade Westfernsehen an?“
Roland im Brustton der Überzeugung: „NEIN!“
„Gibst du mir dein Ehrenwort darauf?“
Roland gab sein Ehrenwort!
Daraufhin zeigte der Vater ihm den Ratschendrehknopf, mit dem man die Sender, "klack, klack, klack" einstellen konnte. Der untere, nicht im Blickfeld liegende Sektor der Ratsche war vom Vater mit einem kleinen schmalen Papierstreifen überklebt worden. Beim Drehen des Knopfes auf den Westsender war der Papierstreifen zerrissen.
Roland hatte seine Ehre verloren!
Das war für ihn dermaßen demütigend, dass er noch Jahre später vieles dafür getan hätte, um vom Vater bezüglich des Ehrenwortes Absolution zu erhalten. Die bekam er nie!
Das Westfernsehen am häuslichen Gerät fand für Roland ab sofort nicht mehr statt. Er ging nunmehr immer drei Etagen höher zu einer Familie, in der zwei Söhne Westfernsehen anschauen durften, so oft, so lange und wann sie wollten. Gegen 18 Uhr ging er dann hinunter, um mit den Eltern pünktlich zu Abend zu essen.
Roland hatte es doch tatsächlich vollbracht, die Schule zu beenden, ohne jemals eine "4" auf dem Zeugnis zu haben. Seine minimalistische Einstellung fand er bestätigt. Die Schule lag hinter ihm. Vor ihm stand die Entscheidung, wie er mit dem Abschluss der achten Klasse seine berufliche Ausbildung angehen sollte.
Sein Vater wechselte von der Tageszeitung, zum Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst (ADN). Margot arbeitete inzwischen auch dort. Als Auslandskorrespondent reiste er jetzt durch die Welt. So kam er von Aufenthalten in Paris, Melbourne und Kairo zurück, was für Roland höchst beeindruckend war. Er hatte viel über die Kontinente und ihre Länder gelesen. Andere Kulturen, ihre Geschichte und Reisebeschreibungen fesselten ihn. In seiner Bibliothek standen zum Beispiel drei bebilderte Bände "Afrika", von denen er Passagen auf die Seite genau aufschlagen konnte, so oft hatte er sie gelesen. Er hatte Fernweh und wäre gerne als Abenteurer oder Archäologe unterwegs gewesen. Wenn es also um seine berufliche Orientierung ging, konnte es sich nur um ein Berufsbild handeln, welches ihm das Tor zur weiten Welt öffnen würde. Pilot, das erschien ihm trefflich.
In der DDR war gerade der Aufbau einer eigenen Flugzeugindustrie angelaufen. In Ludwigsfelde bei Berlin war mit dem Bau von Strahlturbinen begonnen worden. Roland las von einem Internat, gelegen in Ludwigsfelde bei Berlin, in dem Facharbeiter ausgebildet wurden und gleichzeitig Segelflug betrieben werden konnte. So fuhr er nach Ludwigsfelde, schaute sich das Internat an und sprach mit Internats-Lehrlingen und Ausbildern. Beeindruckt vom Enthusiasmus der Lehrlinge und ihrer Ausbilder, kam er nach Berlin zurück. Während der Berufsausbildung den Einstieg in die Fliegerei zu bekommen, das als Einstieg, gefiel ihm schon mal gut. Besser noch war die Aussicht als einer der besten Segelflieger, die Motorflugausbildung anzuschließen. Sein Entschluss stand fest. Die Chance, über den Segelflug zum Motorflug zu kommen, um Pilot zu werden, wollte er ergreifen. Er wollte unbedingt auf das Internat, und so war ihm die konkrete Benennung eines Facharbeiterberufs in seiner schriftlichen Bewerbung vollkommen nebensächlich. Nie vergaß er die Formulierung eines Satzes aus seinem damaligen Bewerbungsschreiben, das er an die Direktion der Flugzeugwerke, zu Händen des Herrn Professor Dr. BAADE, richtete: „….es wäre nebensächlich, ob er einen Ausbildungsplatz zum Hobler, Dreher, Fräser, Werkzeugmacher oder Triebwerkmechaniker bekäme, Hauptsache sei, er werde in das Internat aufgenommen.“ Sein Internatswunsch nach Ludwigsfelde traf voll auf die Interessenlage seiner Eltern. Die planten einen mehrjährigen Auslandseinsatz im Auftrag des ADN. Mit dem (fernen) Berufsziel seines Sohnes kam der Vater gut zurecht. Er sah den Ausbildungsweg zu einem Piloten der DDR-Lufthansa anders als sein Sohn, weil er das Abitur als den besseren Einstieg betrachtete. Also besorgte er rechtzeitig die Vertragsunterlagen eines ebenfalls in Ludwigsfelde befindlichen Internats, in dem mit dem Abitur auch Segelflug mit späterem Zugang zum Motorflug möglich wäre. So kam es, dass zwei unterschiedliche Vertragsunterlagen für Rolands Ausbildung auf dem Tisch lagen. Es gab eine denkwürdige Zusammenkunft im Arbeitszimmer des Vaters. Das Einverständnis musste gegenüber dem Internat auch durch die Unterschrift der Eltern erklärt werden. Hinter seinem Schreibtisch sitzend fragte der Vater den Sohn:
„Welchen der zwei vor dir liegenden Verträge willst Du von mir unterschrieben haben?“
Roland, völlig von sich überzeugt und froh, aus dem Schulbetrieb 'raus zu sein:
„Bitte unterschreibe den Vertrag, für das Internat Lehrlingskombinat „Philipp Müller“! Ich mache dort den Facharbeiter zum Universal-Fräser. Das Handwerkliche reizt mich mehr als die Oberschule.“
Der Vater sah Roland lang und ernst an.
„Ich kann jetzt einfach unterschreiben, so wie du es möchtest. Überlege es dir jetzt endgültig! Wenn ich jetzt so unterschreibe wie du es forderst, will ich in Zukunft nie einen Vorwurf von dir hören!“
Roland, 14 Jahre alt, von sich überzeugt, alles zu können, alles zu verstehen und alles erreichen zu können was er sich vornimmt:
„Niemals werde ich dir einen Vorwurf machen, darauf kannst du dich verlassen, darauf hast du mein Wort!“
Roland war der ernste Unterton seines Vaters und sein zögerliches Handeln unverständlich. Was sollte es seinerseits später schon für Vorwürfe geben, von ihm, dem deutschen Facharbeiter. Arbeiter in der DDR zu sein, war doch der von allen gelobte gesellschaftliche Status. Außerdem würde der Facharbeiterabschluss nur eine kurze Episode auf seinem Berufsweg zum Piloten darstellen. Irgendwo hatte Roland den Spruch gelesen, ihn quasi zu seinem Credo erkoren:
„Ich weiß alles, ich kann alles, ich darf alles!“
Mit dieser, ihm auch später oft als provokant und überheblich ausgelegten Äußerung, verlangte er die Unterschrift vom Vater. Der unterschrieb den Antrag zur Ausbildung als Facharbeiter zum Universalfräser, im Internat „Philipp Müller“.
Rolands letzte Vorbereitung auf das Erwachsensein war der Besuch einer Tanzschule. Eine solche befand sich nur fünf Minuten von der Wohnung entfernt. Schulabgängern, die es verpasst hatten, vor Konformation oder Jugendweihe tanzen zu lernen, wurde im Juli ein 1957 Kurs für Standarttanz angeboten. Über 6 Wochen, wochentags, täglich nachmittags, wurde unter engagierter Anleitung geübt. Roland bekam nicht die Tanzpartnerin seiner ersten Wahl, aber immerhin konnte er sich bei einem Mädchen eintakten, das Rhythmus im Blut zu haben schien und stolz darauf war, von ihm geführt zu werden.
Die Tanzpartnerin seiner Wahl wäre allerdings ein Mädchen gewesen, das bereits in einem Parallelkurs für