AUFRECHT IN BERLIN. K.R.G. Hoffmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: K.R.G. Hoffmann
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783748262367
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Tischreihe ab. Vor Roland stehend, wurde von einem eilfertig im Weihnachtssack kramenden Angestellten “Das versteinerte Brot“ hervorgeholt. Dieses Märchenbuch schenkte ihm der Präsident. Das den anderen Pionieren zu erzählen war schon toll, aber über diesen Kreis hinaus kam kein größeres Interesse bei seinen Alterskameraden auf.

      Oma Else war wieder zu Besuch und brachte in buntes Seiden-Papier gewickelte runde orangefarbene Früchte mit. Ihr Duft war fremdartig, aber interessant. Wie in einen Apfel biss Roland in die orangefarbene Kugel. Das war die erste Apfelsine seines Lebens. Als er Grundmann-Bruder Kurt fragte, warum es denn diese schöne Frucht nicht auch im HO-Laden zu kaufen gäbe, versuchte der ihm dies mit Übergangsschwierigkeiten zu erklären. Auch wenn Oma Else mal ganz schnell vorbeischauen musste, um Zitronen zu bringen, deren Vitamin C zur Bekämpfung einer Erkältung notwendig war – gleiche Frage, gleiche Antwort: „Übergangsschwierigkeiten“.

      Oma Else erzählte, in Westberlin seien die Lebensmittelkarten abgeschafft. Die wieder an Grundmann-Bruder Kurt gestellte Frage, warum es Lebensmittelkarten bei ihnen weiter gäbe, obwohl doch der Sozialismus gegenüber dem Westen siegen würde, erbrachte den zu erwartenden Hinweis auf die „Übergangsschwierigkeiten“. Die letzten Lebensmittelkarten in Ost-Berlin verschwanden acht Jahre später, im Mai 1958.

      Onkel Horst hatte zusammen mit Opa Rudolf erneut den Laden umgebaut. Diesmal wurden aus dem großen Laden wieder wie zur Vorkriegszeit, zwei Läden. In einem hatte Opa Rudolf sein Auskommen, aus dem der Zeit angepassten Warensortiment. Die Leute konnten jetzt Gemüse und Obst frisch in den Lebensmittelgeschäften kaufen. Der eigene Anbau war nicht mehr von die Grundversorgung sichernder Bedeutung. Opa Rudolfs quasi private Zigarrenproduktion stieß an die Grenzen der Gewerbeerlaubnis. Die guten Zeiten seiner Produktionslinie hatten nach der Blockade ihren Höhepunkt überschritten. Es gab ausreichend Rauchwaren allerorten. Im Verhältnis zu den Kosten der Eigenproduktion waren sie sogar relativ preiswert. Den Leuten fehlte über alle Sparten hinweg immer häufiger die Zeit, sich um wachsende Keimlinge zu kümmern. In den Gärten wollte man jetzt entspannen und Spaß haben. Opa Rudolf verkaufte für diese Rasen-Romantik die Utensilien und sicherte die Kundschaft durch eine Lotto-Annahmestelle.

      Onkel Horst führte im anderen Ladenteil Kinderspiel- und Schreibwaren. Traudchen und er waren immer noch zusammen und hatten es in den Turnier-Tanzwettbewerben zu allerlei Ehren gebracht. Sie hatten viel Spaß, waren aber , weil nicht verheiratet - damals durchaus Grund genug - kinderlos.

      Bei den Spielkameraden im Wohngebiet waren die Vorbehalte gegenüber Roland nicht so groß wie in der Schule, ganz im Gegenteil.

      Für Roland war der Kinderspielzeugladen von Onkel Horst eine tolle Sache. Über diesen Weg fand der erste mit Luftkammer-Gummireifen versehene Roller in seine Straße. Mit diesem Vehikel hatte er alle Spielkameraden auf seiner Seite. Abwechselnd durfte jeder auf dem Roller seine Runden drehen. Grundmann-Bruder Kurt war es gar nicht recht, dass ausgerechnet in seiner staatsnahen Familie ein aus westlicher Produktion stammendes protziges Spielmobil existierte.

      Es gab noch weitere Transfers zwischen den Welten:

      „Onkel Horst, eine Murmel aus glasiertem Ton kostet bei uns drei Pfennige, bei dir zwei Pfennige West.“

      „Ja und?“

      „Ich finde deine Glasbucker schön. Die gibt es nicht im Osten, wollen wir tauschen?“ Ich bringe für einen Glasbucker, der zehn Pfennig kostet, fünf und für die größeren sieben oder acht Tonmurmeln.“

      „OK, mein Kompagnon, bring die Murmeln, kannst dir heute schon die Bucker aussuchen.“

      Roland schaffte tausende von den Tonmurmeln zu Onkel Horst in den Laden.

      Auf dem Schulhof mischte er sich unter die privilegiert mit Glasbuckern um Gewinn Murmelnden.

      „Wenn einer von euch Bucker haben will, kann er welche bei mir eintauschen!“, warb er die Spieler

      Roland ging lieber 'raus auf ein körnig planiertes Trümmerstück zum Fußballspielen, als sofort die Hausaufgaben zu erledigen. Diese machte abends, von der Arbeit gekommen, Mutter Margot mit ihm. Keine vergnügliche Sache. Mutter Margot war strenger und penibler als die Lehrer.

      Auf dem Bolzplatz bildeten die Jungen Mannschaften, die aus den gerade Anwesenden zusammengestellt wurden. Zwei vorab bestimmte Mannschaftsführer stellten sich in etwa 2 Meter Entfernung voneinander auf und gingen, Fuß an Fuß setzend, aufeinander zu. Derjenige, der zuletzt einen vollen Fuß setzen konnte, durfte unter den übrigen Spielwilligen zuerst einen weiteren für seine Mannschaft auswählen. Die Mannschaften standen sich gegenüber und begrüßten sich zum Spiel mit: “Zickezacke, Zickezacke, hei, hei, hei“ oder „Sport frei“, manchmal tat es auch ein schlichtes „Sieg Heil“. Als Fußball diente ein genähter Lederfußball mit einer inwendigen Gummiblase, deren Luftventilverschluss durch eine Lederriemen-Verschnürung verkleidet war. Das undichte Ventil erforderte Vorlaufzeit:

      „Wat is nu, wolln wa nu die Verschnürung uffmachen zum Pumpen oder spieln wa gleich mit det bischen Luft?“, war die oft gestellte Frage.

      Im August 1951 fanden in Ost-Berlin die "III.Weltfestspiele der Jugend und Studenten" statt. Das war für die Ostberliner Bevölkerung eine Öffnung zu internationalem Flair. Die Ruinenstadt litt unter Quartiermangel. Man appellierte, für mehrere zehntausende Gäste Logierplätze zu stellen. Rolands Kinderzimmer diente drei deutschen Gästen als Bleibe. In diesen Tagen herrschten für sechs Personen in der kleinen Zweieinhalbzimmerwohnung abenteuerliche Zustände. Ein besonderer Ort war der Balkon. Rolands Familie wohnte im 4. Stock. Im Gegensatz zu den Balkons der darunter liegenden Stockwerken war dieser nicht verglast, sondern nach oben offen. Im Wohnbezirk lief ein Wettbewerb um die Auszeichnung des am schönsten geschmückten Balkons oder der am schönsten geschmückten Fenster und Hauseingänge. Da der nach oben offene Balkon mit vielen Papierfähnchen aus allerlei Ländern sowie mit Lampions üppig geschmückt worden war, gewann Rolands Familie. Der Balkon war zusammen mit dem Wohnzimmer bis in die Nacht Treffpunkt für Familie und Gäste.

      In der Schule sind linierte Unterschriften-Sammelhefte verteilt worden, deren Seiten mit bunten Landesfahnen bedruckt waren. Die Schüler zogen aus, um möglichst viele Unterschriften von Festspielteilnehmern zu ergattern, die diese unter ihre Landesfahne setzen sollten. Äußeres und exotische Gewänder waren besondere Trophäen. „Ich habe einen Inder mit Turban!“ „Ich zwei kohleschwarze Neger mit Leoparden-Umhang!" „Ich brauche noch Japaner und Chinesen!" Ein anderer: "Ick hab Araber uff meene Liste!" So wetteiferten sie tagelang.

      Zum normalen Arbeitspensum (in der Regel 48 Wochenstunden) planten viele Berliner Familien „Aufbaustunden“ ein. Das waren mehr oder weniger freiwillig zu erbringende Arbeitseinheiten an Feierabenden oder Wochenenden. Einzeln, in Gruppen von Freunden und Kollegen, Brigaden oder Hausgemeinschaften leistete man diese Einsätze. Natürlich war es nicht erstrebenswert; nach der Arbeit auf irgendeinem Trümmergrundstück Gebäudereste abzureißen, Steine zu klopfen oder Schutt zu schippen. Das Ganze funktionierte unter den staatlich Bediensteten wie ein Selbstläufer. Wie sollte man als Kommunist und/oder Funktionär Kollegen oder Bekannten erklären, womöglich keine Aufbaustunden zu erbringen. Es war Usus, sich zu Aufbaustunden-Leistungen zu verpflichten. Den Nachweis über volle und halbe Stunden stempelte der aufsichtführende Trümmerfeld-Obmann in das Aufbaustundenheft ein, welches jeder sein eigen nannte. Roland hatte auch so ein Heft. Auf Lastkraftwagen, Traktoren oder Pferdefuhrwerken fuhr er mit und half bei ihrem Entladen auf der Trümmerkippe. Die Kippe bestand aus Schutt, der einen ehemaligen, teilweise nach dem Krieg gesprengten Hochbunker mächtig überdeckte. Sie überragte wie ein natürlicher Berg sämtliche Dächer um ihn herum. Später wurde dieser Trümmerberg bepflanzt und ist zu einem riesigen Park in Friedrichshain geworden. Trefflich sein "Innenleben" bezeichnend, gaben ihm die Berliner den Namen „Mont Klamott“.

      Als kleine Verpflegung gab es auf den Trümmerplätzen süßen Tee oder Muckefuck-Kaffee, sogenannte Lorke - Ersatzkaffee aus verschiedenen Getreidesorten, dazu bestrichene Marmeladenbrotstullen. Spontane Aktionen, wer zum Beispiel am schnellsten zwanzig Steine putzt, das heißt mittels Hammer von altem Mörtel säubert und stapelt, lockerten die Stimmung. Eine Art Kontaktplatz waren die Treffen auf den Steinschutthaufen auch. Viele Frauen waren ohne Mann. Der