AUFRECHT IN BERLIN. K.R.G. Hoffmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: K.R.G. Hoffmann
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783748262367
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warfen mehrere Geldmünzen auf die Fahrbahn in Richtung der deutschen Frauen, die auf dem Bürgersteig standen. Nur zu gern hätten die Siegerfrauen beobachtet, wie sich die deutschen Frauen zu ihren Füßen um die Münzen balgen. Roland war schnell, sammelte die Münzen auf und streckte sie stolz, in freudiger Erwartung ihres Lobes, der Mutter entgegen. Es kam kein Lob, sondern unerwartet eine klatschende Backpfeife. Mutter Margot nahm das Geld und warf die Münzen in Richtung der Russinnen auf die Fahrbahn zurück. Keine andere Frau ging vor, um die Münzen erneut aufzusammeln. Als die Straßenbahn kam, warteten die deutschen Frauen, bis die Russinnen eingestiegen waren, um dann in den anderen Wagen zu gelangen, wo sie weiter unter sich blieben.

      Bei Rolands damaliger Erziehung spielte die Angst vor den Russen ebenfalls eine Rolle. Manches Mal spielte er irgendwo im Freien und musste austreten. Für die Geschäftserledigung extra bis nach Hause und dann noch drei Etagen hinauf zu laufen, lag ihm fern. Der Weg nach Hause zur Toilette war womöglich länger, als dass der zunehmende Druck von ihm noch hätte ertragen werden können. In solchen Situationen suchte er ein uneinsehbares Plätzchen in Gottes freier Natur Dort wischte er sich mit einem Blatt den Allerwertesten ab. Da blieb dann schon mal ein bisschen „brown-color“ in der Unterhose. Die Reaktion von Mutter Margot war die Drohung:

      “Wenn du das so weitermachst, gebe ich dich bei den Russen ab.“

      Beim Besuch der Großeltern in Britz ging Opa Rudolf mit Roland auch auf den Friedhof in der Neuköllner Hermannstraße bis an dessen Ende. Ein Maschendrahtzaun trennte den Friedhof vom Flughafen Tempelhof. Ganz niedrig flogen die DC-3-Blockade-Transportflugzeuge der Amerikaner über sie hinweg. Kaum war eine Maschine gelandet und rollte aus, war schon das nächste Flugzeug über ihnen. Roland konnte die Besatzungen unmittelbar sehen.

      Zwischen den Gräbern jagten Zuschauer, ob jung oder alt, den manchmal herabsegelnden kleinen Fallschirmen hinterher, an denen Schokolade, Bonbons oder Kaugummis hingen. Die Amerikaner waren für sie die Größten.

      Am Geburtstag von Onkel Horst, dem 12. Mai 1949, war die Blockade der Russen gescheitert. Die Flugzeuge der Alliierten flogen aber noch bis Ende September mit vollem Einsatz, um Vorräte anzulegen. Damit sollte dem nächsten Winter vorgesorgt werden, denn Sicherheit vor neuen Schikanen durch die Kommunisten gab es keine.

      Die Westberliner atmeten auf. Die Ostberliner fühlten überwiegend mit ihnen, aber so glücklich wie die Westberliner waren sie nicht. Im sowjetischen Sektor hatte sich zwar nichts geändert, aber es gab zwei Währungen in der Stadt. In West-Berlin gab es auf einmal alles zu kaufen. Der Währungswert zwischen der Ostmark und der Westmark differierte stark. Jetzt wurde nicht mehr Ware gegen Ware getauscht, sondern nur noch mit Geld für Ware bezahlt. Das wurde natürlich von der Bevölkerung in Ost-Berlin als klare Benachteiligung empfunden. Es gab zwar alles zu kaufen, aber eben nur in Westberlin. Die erste Wechselstube in Westberlin verkaufte eine Deutsche Mark im Juli 1948 für 2,20 Ostmark. Schnell stieg der Kurs von West zu Ost von 1: 3, auf 1: 5 bis 1: 8. Normal verdienende Bürger aus Ostberlin konnten nicht regelmäßig in Westberlin einkaufen. Rolands Ur-Großeltern und Großeltern aber schütteten nach den vorangegangenen Notjahren das ganze Füllhorn der neuen Möglichkeiten über ihm aus.

      Am 1. September 1949 wurde Roland bei schönem Wetter eingeschult. Er bekam gleich drei große Schultüten. Fotografiert werden konnte er aber nur mit Zweien, und so musste eine der Schultüten immer abwechselnd von einer der Omas gehalten werden. Er hatte einen prächtigen und gleichermaßen robusten Schulranzen bekommen. Der stammte von Opa Rudolf und war aus hellbraunem Rindsleder. Federtasche für Bleistifte, Federhalter, Buntstifte und Radiergummi sowie Hefte, Malblock, Knete, Schulkreide, Schiefertafel mit Schwamm - alles war neu. Die Einschulung war, vom Beschenktwerden her betrachtet, wie Weihnachten im Sommer. In den Schultüten befanden sich Süßigkeiten, Murmeln und Bucker. Murmeln waren glasierte Tonkugeln. Bucker waren runde Glaskugeln, größer als die Murmeln. Schule ist schön, und so war sie es auch für Roland in der ersten Klasse. Der Schulbetrieb war zweischichtig. Der Unterricht fand zwei Wochen lang vormittags und darauf zwei Wochen am Nachmittag statt. Sein Schulweg dauerte zu Fuß etwa 15 Minuten und führte durch einen von zusammengerutschten Schützengräben durchzogenen ehemaligen Wald, wo jetzt ausgebrannte Autos und rostender Militärschrott lagen.

      Die Grundmann-Brüder Alfred und Kurt hatten ihr Verhältnis zu Mutter Margot sortiert und unspektakulär geklärt. Die Ehe mit dem jüngeren Grundmann-Bruder Alfred wurde geschieden. Mutter Margot heiratete unmittelbar darauf, im Jahr 1950, den 10 Jahre älteren Grundmann-Bruder Kurt. Zu Grundmann-Bruder Alfred hatte Roland weiterhin Kontakt, und ab und zu segelte dieser mit ihm auf dem Müggelsee - so wie früher. Eine neue Oma bekam Roland nicht, denn Oma Berta war ja auch die Mutter von Grundmann-Bruder Kurt. Sein Nachname wurde auch nicht geändert. Einen gravierenden Unterschied gab es aber doch im neuen Familienkonstrukt. Die Paradigmen politischer Betrachtungsweisen änderten sich unter Grundmann-Bruder Kurt total. Die Deutschen wären nicht besiegt, sondern seien befreit. Die sowjetrussischen Soldaten waren von nun an heldenhafte Kämpfer. Sie hätten zusammen mit deutschen Antifaschisten und auch westlichen Alliierten Deutschland vom Hitler-Faschismus befreit. Den Befreiern, ganz besonders dem sowjetischen Führer Jossif Wissarijonnowitsch Dschugaschwili, genannt STALIN, dem größten Genius unserer Epoche, sei zu danken. Die ruhmreiche Sowjetunion hatte Stalin zum Führer und Deutschland Wilhelm PIECK als Präsidenten. Die deutschen Soldaten waren faschistische Verbrecher. Die Faschisten lebten heute im Westen. Unter der Führung der Kommunisten, angeführt durch die Klasse der Arbeiter und Bauern, werde der Sozialismus in ganz Deutschland siegen….

      Die DDR hatte ab 1950 eine neue, eigene Nationalhymne, die den Aufbauwillen, die Friedenssehnsucht und das vereinte deutsche Vaterland im Text manifestierte. Ab 1972 durften die Bürger ihren Text nicht mehr singen, weil die Politik der DDR strikt gegen eine Wiedervereinigung ausgerichtet war und die Militarisierung Mitteldeutschlands als Bestandteil des „Warschauer Paktes“ den Friedenswillen konterkarierte.

      Mutter Margot wurde Mitglied in der Organisation „Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische-Freundschaft“ und Kandidatin der „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED)“.

       Steppke in der Stadt zweier Welten

      Vor dem Beginn seines zweiten Schuljahres zogen Margot und Grundmann-Bruder Kurt 1950 in den Bezirk Lichtenberg. In der Eduardstraße war ihnen in der dritten Etage eine nach Brandbombenschaden wieder aufgebaute Wohnung von zweieinhalb Zimmern mit Balkon, Küche, Toilette mit Bad und Ofenheizung, zugewiesen worden.

      Das Wohnhaus war von Ruinen-Komplexen umgeben. In ihnen zu spielen war zwar verboten, aber die Neugier, unbekanntes Terrain zu erkunden, überwältigte Roland. Mit nicht immer nur leichtem Gruseln wühlte er sich mit den neuen Spielkameraden durch die Kellerverliese. Meistens hatten sie eine Taschenlampe dabei. Selbst wenn die Batterie ihrem Ende nahe war oder die Birne aufgrund vergammelter Kontakte flimmerte, zwangen sie ihre Augen, in der Dunkelheit Orientierung zu finden. Sich gegenseitig Mut machend, tasteten und schlichen sie durch die feucht und muffig riechenden Katakomben. Die ehemaligen Hausluftschutzkeller waren untereinander verbunden, und so kamen sie erst mehrere Hausaufgänge weiter wieder an die Oberfläche. Wehe, wehe, wenn sie im Halbdunkel unerwartet auf einen Erwachsenen trafen. Dann rannten sie Hals über Kopf mit Mut machendem Gebrüll den Weg zurück. Danach versprachen sie sich zwischen Angst und Neugier einen erneuten Ausflug unter Tage. Brauchbares ist von ihnen aus den Erdgeschossen, Gewölberesten und Luftschutz-Kellernischen nicht zu Tage gebracht worden. Erwachsene wühlten zwischen den Trümmern nicht nur nach Hinterlassenschaften der ehemaligen Bewohner. Buntmetall zum Beispiel war so begehrt, dass von den Wühlern die Kartenhausstatik der bizarren Mauerfragmente oft überschätzt wurde. Es gibt keine Statistik über Verschüttete und/oder zerquetschte Gliedmaßen.

      Zur Schule ging Roland nunmehr in Rummelsburg. Dies war ein riesiger Schulkomplex, bestehend aus Grundschule, Oberschule und Hilfsschule. Die neue Klasse war zusammengewürfelt. Als Jahrgangsschüler der zweiten Klasse traf er auf Sitzenbleiber voriger Jahrgänge. Rückgeführte Schüler aus der Hilfsschule waren auch noch da. Der morgendliche Spruch zum Unterrichtsbeginn lautete:

      “Hände falten, Köpfchen senken und jetzt an Josef Wissajonnowitsch Stalin denken.“

      Die Gemengelage von unterschiedlichen Altersstufen und sozialer