Unter seinen Spielkameraden wurde einer „Galle“ genannt. Galle war der Sohn des aus Vorkriegsjahren in Berlin bekannten 6-Tage-Rennradfahrers Gallinke. Galle hatte einen festen Stand in der Hierarchie der Kämpfenden. Nicht, dass er von besonderer Größe und von vor Kraft strotzender Figur gewesen wäre. Er kämpfte nach dem Motto: Weniger ist mehr!
Plötzlich krümmte sich der Gegner oder fiel zusammen. Galle wusste, wo er genau zu treffen hatte, und er wusste, nach welcher Finte er treffsicher beim Gegner würde einschlagen können. Das hatte ihm sein Vater beigebracht. Im Krieg war Galles Vater Fallschirmjäger gewesen und als solcher vielfach dekoriert. Er hielt sich sportbegeistert körperlich fit. In Galles langem Wohnungsflur hing an der Decke ein gefüllter Leinen-Sandsack. An dem boxte er mit Sohn Galle mit echten Boxhandschuhen. Vor dem Boxsack hatte Galles Vater hier eine Schaukel platziert, die vom Sohn so beherrscht wurde, das er sich mit den Füßen von der Decke abstoßen konnte. Galle war inzwischen der Schaukelei entwachsen, und so kam der Sandsack an die Flurdecke.
Galle und Roland waren die Bestimmer des Jungentrupps im Wohngebiet. Galles Vater fand Roland zu seinem Sohnemann passend. Als ihm die beiden Steppkes Rolands Probleme auf dem Schulhof schilderten war klar: Roland wird trainiert. Beide Galles führten Roland in die Anatomie des menschlichen Körpers ein.
Leber- Leberhaken, anatomisch gesehen ist die Leber zum größten Teil von den Rippen abgedeckt. Nur unten rechts, beim Gegenüber gesehen also links, lugt ein kleiner Ausläufer von ihr vor. Den treffen, und die Leber zieht sich unter großem Schmerz zusammen - die Sache ist erledigt.
Der Solarplexus, ein begehrtes Objekt suchender Fäuste, befindet sich am Übergang von Brustkorb zur Magengrube. Ein Treffer raubt die Luft und "gut is".
Ein Kinnhaken als Aufwärtshaken, gerade oder schräg geschlagen, am besten aus kurzer Distanz ausgeführt, nimmt dem Hirn seinen Dienst. Die Galles übten mit Roland mitleidlos. Wenn der sich nach ihrer Vorstellung zu dämlich anstellte, musste er halt leiden. Sie zeigten, wie man den Gegner durch Finten täuscht.
„Bloß nicht das Prügeln des Gegners in Richtung Gesicht mitmachen. Arme hoch, schütze dich durch Deckung. Warte ab und hab einen Plan“, so lauteten Vater Galles Beschwörungen. Sich selbst vertrauend demonstrierte Roland die erlernte Technik. Das sprach sich herum. Manch unausweichlich scheinender Schlagabtausch kam so erst gar nicht mehr zu Stande. Roland profitierte bis ins Mannesalter von den Box-Einführungen bei den Galles. Er flatterte nie und nirgends – selbstsicher und kühlen Verstandes suchten seine Augen den Kontakt zu denen des Gegners….
Den familiären Besuch von Ost- nach Westberlin versuchte Grundmann-Bruder Kurt zu unterbinden. Umgekehrt fand der regelmäßige familiäre Kontakt von West- nach Ostberlin, wöchentlich immer mittwochs, durch Oma Else statt.
Opa Rudolf war die ideologische Voreingenommenheit seines neuen Schwiegersohns suspekt. Grundmann-Bruder Kurt war nicht der Funktionärstyp oder Agitator. Man sah es einfach an seiner Körpersprache, wenn er mit den Auffassungen seiner Gäste nicht einverstanden war. Er gab zu erkennen, dass er seiner Meinung Widersprechendes nicht hören wollte. Dem wollte sich Opa Rudolf nicht mehr aussetzen. Grundmann-Bruder Kurt wollte und durfte offiziell von der gutgemeinten Unterstützung durch die Westberliner Verwandten nichts wissen. Das betraf beispielsweise Oma Elses bunte Sammelbilder von Sanella oder Sarotti. Solche Serien-Sammelbilder hatten einen hohen Tauschwert auf dem Schulhof. Noch höher wurde Kaugummi bewertet. Kaugummi haben, Kaugummi kauen demonstrierte Überlegenheit und Wohlstand. Eltern von Rolands Klassenkameraden, die in Westberlin arbeiteten, bekamen einen Teil ihres Lohns in Westgeld und brachten neben all den anderen Dingen, die es in Ostberlin nicht zu kaufen gab, Kaugummis mit. Weil Grundmann-Bruder Kurt das schmatzende Kaugummikauen für westlich dekadent hielt, durfte Oma Else nicht liefern. So sehr Roland auch bettelte, sie tat es einfach nicht. Roland musste sich seine Kaugummis eintauschen. Zu Hause, wenn mit dem Erscheinen von Mutter oder Grundmann-Bruder Kurt zu rechnen war, klebte er seinen angefangenen Kaugummi zwischen seine Bleistifte und kaute tags darauf weiter. Mickymaus oder Comic-Western besaß Roland nicht. Hingegen hatten Mitschüler neue Hefte gelesen und unterhielten sich darüber. Roland konnte die Hefte nicht lesen, jedenfalls nicht sofort. Die Unterhaltungen fanden ohne ihn statt. Geschichten über Kriegsgeschehnisse, wie sie Schulkameraden in ihren Familien erzählt wurden, glaubte er eher als den grundsätzlich gegenteiligen Beschreibungen von Grundmann-Bruder Kurt. Dieser sprach nie über eigene Kriegserlebnisse. Mit Bewunderung sprachen die älteren Jungen von bekannten Kämpfern, zu denen sie Feldmarschall Rommel in Afrika, Kampfpiloten, Ritterkreuzträger mit Eichenlaub, Schwertern und Brillanten, Gallant und Rudel oder den U-Boot-Kommandant Prien zählten. Der Mut der deutschen Soldaten, sich der Übermacht ihrer Gegner bis zum Schluss zu erwehren, machte sie Roland und seinen Altersgenossen zu Helden.
Die Abenteuer des Karl May waren als Schundliteratur eingestuft und durften weder besessen noch ausgeliehen werden. Karl May befand sich in fast jedem Bücherschrank der Erwachsenen, weil er Bestandteil ihrer Jugendbibliotheken war. Das Verbot machte besonders neugierig und so wurden diese Bücher als Schätze untereinander geliehen. Mit der Entgegennahme eines solchen Buches übernahm Roland natürlich auch die Verantwortung für dessen Unversehrtheit bis zur Rückgabe. So war jede Ausleihe stets ein konspirativer Akt. Wie andere Altersgenossen auch las er mit der Taschenlampe unter der Bettdecke, wenn sich in der Wohnung Ruhe eingestellt hatte. Morgens legte er seinen jeweiligen Leseschatz in einen Hohlraum, der sich auftat, wenn er die unterste Schublade seines Schrankes herausnahm. Der Boden des Schrankes schloss durch Holzplatten ab. Über die Führungsschienen zog er die unterste Schublade völlig heraus, legte das Buch in den sich anbietenden Hohlraum und setzte die Schublade wieder ein.
Als Roland die erste oder zweite Rangstelle in der Klasse innehatte, wurde er zu den Geburtstagsfeiern der Mitschüler eingeladen. Auch zwischen solchen Anlässen wurde der Klassenhäuptling zu anderen Familien mit nach Hause genommen. Roland als Einzelkind folgte gerne diesen Einladungen, denn ihm fehlte die Spielgemeinschaft in der Wohnung. Er war ein sogenanntes Schlüsselkind. Schlüsselkinder trugen den Wohnungsschlüssel an einem Band um den Hals. Mutter Margot und Grundmann-Bruder Kurt waren berufstätig. Schlüsselkinder kamen nach Schulschluss in eine leere Wohnung. Wohl aus Lust, mehr in seiner Freizeit zu erleben, trat er, ohne vorher zu Hause zu fragen, eines Tages den “Jungen Pionieren“ bei. Der Gruß unter den Jungpionieren war: „Seid bereit“, der Widergruß lautete: „Immer bereit“. Von der Pionierleiterin bekam er ein blaues Halstuch geschenkt und ihm wurde gezeigt, wie er es zu knoten hatte. Mit dem umgebundenen Halstuch empfing er Grundmann-Bruder Kurt an der Wohnungstür. Der kaufte ihm tags darauf das weiße Jungpionier-Hemd mit dem aufgenähten Emblem auf dem Ärmel, die zur Uniform gehörende blaue kurze Pionier-Hose und weiße Kniestrümpfe. Die Organisation der „Jungen Pioniere“ hatte attraktive Angebote. Es gab kostenlose Kinokarten, Kindertheater-Karten und man unternahm Besichtigungen und Ausflüge. Als Jungpionier aus kommunistischem Funktionärs-Haushalt war er nicht in jeder Familie als Spielkamerad willkommen. Demzufolge reduzierten sich die häuslichen Einladungen.
Grundmann-Bruder Kurt arbeitete im Zentralkomitee der SED, dem höchsten Führungsgremium in der Sowjetzone. Diese nannte sich nach einem Gründungsakt am 7. Oktober 1949 jetzt Deutsche Demokratische Republik (DDR). Margot, die seit Mai 1950 in einem Verlag als Stenotypistin gearbeitet hatte, war seit August 1951 Schulsekretärin in Lichtenberg.
Beeindruckt und stolz war Roland auf Grundmann- Bruder Kurt, nachdem dieser ihn zusammen mit Mutter Margot