Tausendfache Vergeltung. Frank Ebert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Frank Ebert
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783957163127
Скачать книгу
Wohnung übernehmen?“, fragte Bill unsicher. Ohne Al’s Antwort abzuwarten, fuhr er fort: „Wirklich eine wahnsinnig tolle Wohnung. Im Stadtteil Itaewon, gleich hier hinter dem Namsan-Berg.“

      „Der Namsan-Berg ist …“

      „Genau, Al! Der Berg, auf dem der Seoul-Tower steht. Wahnsinn, wie du das alles schon weißt. Es ist ganz in der Nähe, gar nicht weit von hier“, versicherte Bill.

      Wie er das Essen in sich hineinschlang! Als wollte er sich mit dem eiligen Verzehr kalter Nudeln einen Platz im Guinness-Buch der Rekorde sichern.

      „Mmh, ja. Also echt, die Wohnung … Ich meine, sie ist wirklich wahnsinnig spitze“, schwärmte Bill. „Allerdings, einen Haken hat sie …“

      Al runzelte die Stirn.

      „Im Winter brauchst du Luftbefeuchter, in allen Zimmern. Und jetzt, wo es Sommer wird, Trockengeräte. Wahnsinn, sag ich dir!“

      Während des Sprechens beschrieb er die Gegenstände mit dem Besteck in der Luft.

      „Aber keine Angst – ist alles da. Kannst du übernehmen, das heißt, natürlich nur, wenn du willst. Du musst nicht, klar. Aber du kannst, wenn du möchtest.“ Bill lehnte sich zurück.

      „Nur schade, dass du wenig Zeit haben wirst, um deine vier Wände zu genießen“, seufzte Bill. „Aber im Ernst: Du wirst doch nicht länger auf ein teures Hotellogis angewiesen sein wollen. Wenn du möchtest, kannst du dir die Wohnung gleich heute Abend ansehen.“

      „Ja, ja …“

      Al hörte nur noch mit einem halben Ohr hin. Er zog es vor, die anderen Gäste zu mustern. Hätte er nicht diesen Schwätzer neben sich sitzen, würden ihm die Nudeln tatsächlich schmecken.

      „Und dann der Dienstwagen, Al. Nicht mehr das neueste Modell, hat manchmal seine Mucken. Liegt wohl daran, dass Goldmann wie wahnsinnig spart. Aber mir hat die Kiste gereicht. Ich weiß natürlich nicht, welche Ansprüche du stellst.

      Vielleicht hast du ja auch bessere Beziehungen zum Hauptquartier als ich …“

      „Im Augenblick würde ich gerne in Ruhe essen!“, entfuhr es Al ungehalten.

      „Entschuldige. Aber wir haben nicht mehr viel Zeit. In vier Tagen fliege ich“, schwärmte Bill. „Wahnsinn!“

      Teils amüsiert, teils verständnislos schüttelte Al den Kopf. Er hatte er noch nicht erlebt, dass sich jemand Berge von Essen einverleiben und dabei ununterbrochen reden konnte. Bills Gedanken schienen sich zu überschlagen.

      „Fertig“, stellte Bill erleichtert fest. „Ich bin fertig, Al.“

      Bill schob die Serviette, mit der er sich seinen vollen Mund abgewischt hatte, auf den leeren Teller und schluckte den letzten Bissen hinunter.

      „Wahnsinnig gut, die Dinger. Das Einzige, was man als Amerikaner in Korea verträgt.“

      Empört sah Al ihn an.

      „Lass dir ruhig Zeit, Al“, setzte Bill mit einem Blick zur Uhr nach. „Ich lasse schon mal die Rechnung bringen. Hoffentlich dauert das nicht so wahnsinnig lange …“

      Al bemühte sich, die Ruhe zu bewahren. Doch in dieser unruhigen Atmosphäre verzichtete er gerne darauf, aufzuessen.

      Er steckte sich eine Zigarette an.

      Bill redete unablässig weiter:

      „Ich dachte mir, Tom und Sandy könnten dir heute Nachmittag einiges über die Redaktionsarbeit erklären.“

      „Die Buchhalterseele und der Straßenkreuzer?“, fragte Al ungläubig.

      „Lass mal. So wirr Tom auch aussieht – der Junge ist wahnsinnig clever. Du kannst dich auf ihn verlassen. Auf Sandy auch. Hundertprozentig!“

      Al glaubte ihm bedenkenlos. Am Vormittag hatte er die einigermaßen aufgeräumten Büros der beiden gesehen. Ihm war klar, wer der Verursacher des organisierten Chaos in der Redaktion war.

      „Das geht in Ordnung“, bestätigte Al. „Allerdings – ich hätte da noch eine Kleinigkeit zu erledigen – privat“, ließ er Bill geheimnisvoll wissen.

      „Wo bleibt denn die Bedienung, verdammt noch mal?“

      Bill schlug gereizt auf den Tisch.

      „Spätestens morgen sollten wir zu Bob Woods gehen, Al.“

      „Bob Woods? Wer ist das?“

      „Robert O. Woods! Du musst ihn kennenlernen – Presseattaché in unserer Botschaft. Das ist eine Type! Wahnsinn, der Kerl. Trägt meistens Fliege. In Fachkreisen heißt er ,Fliegen-Bob‘. Kolossal wichtig. Außerdem wird er dir bei der Akkreditierung behilflich sein. Er kennt Tod und Teufel. Aber jetzt sollten wir wirklich los.“

      Bill stand auf und zog sich umständlich den Hosenbund hoch.

      „Hallo, zahlen bitte …“

      Fahrig schleppte er Al zum Büro zurück. Al weigerte sich standhaft, die Straße noch einmal oberirdisch zu überqueren. Beiden perlte der Schweiß von der Stirn, als sie die Redaktionsräume erreichten. Aus Sandys Zimmer plärrte der amerikanische Nachrichtensender Popmusik. Sandy sang schräg mit – irgendeinen unverständlichen Text. An den Decken der Büroräume surrten gleichmäßig riesige Ventilatorenblätter.

      Ohne sie, die die stickige, heiße Luft umschaufelten, war die Hitze auf der Etage unerträglich.

      In Toms Zimmer schellte sich das Telefon wund.

       4 Seoul, Redaktionsbüro der LAN

      „Gut, Se Ung. Bis halb sechs – am Chogyesa-Tempel.“

      Al legte den Telefonhörer auf und sah auf die Uhr. Es war kurz nach vier. Um halb sechs Uhr war er mit seinem Schwager Se Ung, dem Bruder seiner toten Frau, verabredet. Zum ersten Mal seit Shing-hees Tod würde er einem Mitglied der Familie Bae gegenübertreten. Er konnte nicht behaupten, dass ihm seit seiner Ankunft vor drei Tagen leichter zumute war. Im Gegenteil – ein mulmiges Gefühl bemächtigte sich seiner Magengrube. Sein Schwager hatte sich am Telefon ausgesprochen kühl angehört, als sie soeben den Termin verabredeten. Dass er mit Al überhaupt sprechen wollte, ließ ihm einen winzigen Hoffnungsschimmer.

      „Ich gehe dann, Bill“, rief er Cooper zu, der in seinen Papierstapeln wühlte.

      „In Ordnung, Al“, antwortete Bill knapp, ohne aufzusehen. „Und bitte, sei morgen pünktlich!“, setzte er nach.

      Dieser Kleingeist! Als ob Al nicht selbst wissen würde, wann er zum Dienst zu erscheinen hätte, wenn sie einen Termin in der amerikanischen Botschaft hatten. Wieder einmal zog er es vor, nicht zu antworten, und verließ wortlos das Büro. Als er aus der Schwingtür des Hochhauses auf die Straße hinaustrat, kam es ihm vor, als würde ihm eine unsichtbare Hand den Hals zuschnüren. Er atmete tief durch und schlug den Weg nach Insadong ein, der engen Straße mit ihren Antiquitätengeschäften und Kunstgalerien.

      Sein Weg führte ihn die Sejongno-Straße hinaus zu den prächtigen Anlagen des Toksugung-Palastes. Auf den steinernen Stufen mit den imposanten mittelalterlichen Bauten posierten Hochzeitspaare vor der malerischen Kulisse für Fotoaufnahmen. Dann schlenderte er an einigen der Kaufhäuser entlang, die das Rathaus umgeben. Er passierte mehrere Hochhäuser mit ihren zahlreichen ausländischen Botschaftsbüros und verweilte vor dem Koreanischen Pressezentrum. Es schien, als wollte ihn der gigantische Wolkenkratzer mit seinen über zwanzig Stockwerken erschlagen. Die US-amerikanische Botschaft war in einem eigenen, aber älteren und durch einen Vorgarten etwas von der Straße zurückgesetzten flachen Gebäudekomplex untergebracht.

      Als er die Straße weiter hinaufging, fiel sein Blick auf das breite, bunt bemalte Tor des Kyongbokkung-Palastes, das die breite Sejongno-Straße nach Norden hin abschließt. Links und rechts bog auf mehreren Spuren vor dem Tor der Straßenverkehr ab, wie eine Reverenz an die längst vergangenen, aber immer noch lebenden Traditionen.