Tausendfache Vergeltung. Frank Ebert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Frank Ebert
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783957163127
Скачать книгу
Madame, es tut mir unendlich leid – wie konnte ich nur …? Äh, also ich meine … – Entschuldigung …“

      „Sehen Sie nur, was Sie angerichtet haben. So kann ich doch nicht wegfliegen. Sind Sie immer so rücksichtslos?“, schleuderte ihm die Frau entgegen.

      „Ich weiß nicht, wo ich heute meinen Kopf habe. Wie kann ich das denn wiedergutmachen, Madame?“

      „Wiedergutmachen? Was wollen Sie denn da wiedergutmachen?“, schimpfte die Dame weiter. „Ich brauche neue Kleidung. Und hier, mein Handgepäck, überall trieft dieser Kaffee herab. Ekelhaft!“

      Angewidert schleuderte sie mit ihren Händen.

      „Hören Sie“, mischte sich jetzt der Polizist ein und trat drohend einen Schritt auf Al zu, „die Lady hat einen langen Flug vor sich. Würden Sie etwa so losziehen wollen, hä?“

      Er stemmte seine kräftigen Arme in die Hüften.

      „Natürlich nicht. Ich sagte ja bereits, dass es mir leidtut. Es war ja auch nicht absichtlich … So etwas kann doch mal vorkommen“, protestierte Al kleinlaut, bevor der Polizist weitermachte:

      „Haben Sie etwas getrunken?“

      Der Polizist bildete sich doch nicht etwa ein, Al’s Atem könnte mit Whiskeyaroma durchmischt sein? Argwöhnte der Ordnungshüter vielleicht, einen angetrunkenen Passagier vor sich zu haben? Die Flughafenpolizei fackelte mit Alkoholisierten nicht lange. Sie warf sie kurzerhand aus dem Gebäude.

      Keinesfalls wollte Al seinen Abflug riskieren.

      „Ja – äh, also das heißt … genau genommen noch nicht“, gab er zurück.

      „Was denn nun?“, hakte der Polizist ungeduldig nach, während ihn die Dame am Ärmel zupfte.

      „Lass es gut sein, George. Es ist nun einmal nicht mehr zu ändern“, beschwichtigte ihn die Dame.

      Obwohl ihr die Überraschung des Moments noch ins Gesicht geschrieben stand, schien sie sich schnell mit der unangenehmen Situation abzufinden.

      Erst jetzt musterte Al sie eingehender. Ihre Mandelaugen, ihr glänzendes, schwarzes Haar, ihre Figur, ihre Stimme – hatte sie nicht eine gewisse Ähnlichkeit mit Shing-hee, mit seiner Shing-hee, die er so sehr geliebt hatte? Nur für oberflächliche Menschen sehen alle Asiaten gleich aus. Nicht für Al.

      Er wusste zu unterscheiden. Shing-hee! Sie war nicht nur für ihn immer etwas Besonderes. Nein, sie war einfach einzigartig und unvergleichlich gewesen. Für einen Moment hatte er mächtig gegen den Trauerkloß anzukämpfen, der in ihm hochzusteigen begann.

      Der Vorfall schmerzte ihn. Das hatte er wirklich nicht gewollt. Und nun setzte sich diese Frau, die allen Grund hatte, auf ihn böse zu sein, für ihn bei der Flughafenpolizei ein.

      Wirklich bemerkenswert. Wie alt sie sein mochte? Schwer zu sagen. Die kleinen Fältchen um die dunklen Augen, die auch ihr dezentes Make-up nicht verbarg, ließen ihr Alter zwischen fünfunddreißig und vierzig Jahren vermuten. Shing-hee war achtunddreißig Jahre alt geworden.

      „Nun tun Sie doch endlich was“, brummte der Polizist ungehalten.

      „Lass es jetzt gut sein, George, bitte!“, drängte die Lady. „Wir kriegen das schon wieder hin. Weißt du was? Ich gehe dort drüben zur Toilette und ziehe mich rasch um. Wozu hat man die Sachen im Handgepäck, nicht wahr? Der Inhalt wird ja hoffentlich verschont geblieben sein. Bis gleich.“

      Sie seufzte kurz. Dann zwinkerte sie den beiden Männern zu, bevor sie mit schnellen Schrittchen forttrippelte. Das Stakkato ihrer Absätze reicherte das Geschepper ihres Bordcase auf dem polierten Marmorboden um eine persönliche rhythmische Note an.

      Al fühlte sich zu einer Erklärung genötigt, um jeden Verdacht gegen sich auszuräumen. Er wandte sich dem Polizisten zu:

      „Glauben Sie mir bitte, Sir, die Sache ist mir wirklich wahnsinnig unangenehm. Aber in letzter Zeit bin ich manchmal etwas durcheinander.“

      „Haben Sie das öfter?“

      Al schüttelte den Kopf.

      „Nein, ich kenne das eigentlich nicht.“

      „Sie riechen doch nach Whiskey – oder täusche ich mich?“

      „Ich fürchte: ja. Nichts gegen einen Schluck – aber ich glaube, es ist mein Rasierwasser.“

      Der Polizist streckte seinen Hals vor und fächelte sich mit einer Handbewegung den Duft zu.

      „Mmh“, brummte er, „könnte sein …“, und zog seinen Kopf zurück, wobei er nicht besonders überzeugt wirkte.

      „Sie haben wirklich keinen Alkohol getrunken?“

      „Nein“, versicherte Al, bevor er in seiner Erklärung weiterfuhr: “Sehen Sie, meine Frau ist kürzlich tödlich verunglückt – bei einem Verkehrsunfall. Stellen Sie sich das vor: Sie gehen morgens aus dem Haus, wie an jedem Tag, und bekommen einen Anruf. Sie werden in das Büro des Sheriffs von Orange County bestellt, sollen sofort hinkommen. Am Telefon will keiner den Grund nennen. Erst auf der Polizeistation erfahren Sie, was geschehen ist …“

      „Oh, Mann, das tut mir leid. Es muss für Sie ein furchtbarer Schlag gewesen sein.“

      Der Flughafenpolizist kam Al auf einmal nicht mehr so grob vor.

      Al, der wieder an dem Kloß in seinem Hals zu würgen begann, erzählte dem Polizisten leise, was passiert war. Wie Shing-hee morgens nach dem gemeinsamen Frühstück fröhlich in ihren Wagen gestiegen war, wie sie den immer gleichen Weg in die Redaktion nach Downtown fahren wollte und aus unerklärlichen Gründen plötzlich die Kontrolle über den Wagen verloren hatte. An dem Brückenpfeiler des Freeway war die Aufprallstelle immer noch deutlich zu sehen. Als der Rettungshubschrauber mit ihrem zerschmetterten, reglosen Körper auf dem Dach der Unfallklinik landete, war sie bereits tot.

      „Die Ursache für den Unfall?“, wollte George neugierig wissen.

      Al zuckte die Achseln.

      „Bis heute ungeklärt.“

      Die beiden Männer standen eine Weile schweigend da. Betreten stierten sie vor sich hin.

      Sie wirkten auf die Lady, die sie von ferne erspähte, inmitten des Gewühls der Passagiere wie verlorene, einsame Insulaner.

      „Nanu, so nachdenklich?“

      Die Lady trug jetzt ein buntes Sommerkleid, in dem sie fast noch adretter aussah als vorher in ihrem hellblauen Kostüm.

      Die Kaffeeflecken hatte sie von ihren Schuhen und dem Bordcase notdürftig abgewischt. Letzte Spuren waren nicht zu übersehen.

      „Weißt du, Jung Sook, dieser Gentleman hat mir gerade seine Geschichte erzählt. Eine traurige Geschichte, eine sehr traurige Geschichte“, antwortete George.

      Georges mürrischer Gesichtsausdruck war inzwischen der mitleidsvollen Miene eines Hundegesichts gewichen. Er blickte auf die riesigen Metallzeiger der Terminaluhr.

      „Tut mir leid, Jung Sook, ich muss meinen Dienst fortsetzen.

      Ich komme aber später noch einmal vorbei – bis dann.“

      George zog seine Uniform wieder glatt und rückte die Mütze zurecht. Er verschwand im Gewimmel der Passagiere.

      „Darf ich auch erfahren, worum es geht?“, erkundigte sich die Lady neugierig.

      „Oh ja, natürlich. Aber ich wollte mich zunächst bei Ihnen in aller Form entschuldigen, Madame. Für den Schaden komme ich selbstverständlich auf.“

      „Halb so schlimm, es geht schon wieder“, kokettierte sie.

      „Ich habe noch eine gute halbe Stunde Zeit bis zum Boarding. Darf ich Sie zu einem Drink einladen?“

      „Gerne.“

      „Wann geht Ihr Flug?“

      „Ach,