Im Juli 1521, unmittelbar vor dem Beginn der Friedensverhandlungen, legte Gattinara Karl ein Positionspapier vor, das Argumente für und wider eine Fortsetzung des Krieges aufführte. Zunächst diskutierte Gattinara sieben Argumente für einen Waffenstillstand. Die meisten davon waren sehr allgemein gefasst (der Ausgang eines Krieges war stets unsicher; hohe Kosten waren nicht zu vermeiden; so spät in der Saison ließ sich schwerlich noch ein Feldzug beginnen), aber es waren auch spezifischere dabei (La Marck und Navarra waren bereits geschlagen). Dann folgten zehn Gründe für eine Fortsetzung des Krieges, die meisten wiederum allgemeiner Art (Karl führte einen gerechten Krieg und konnte daher auf Gottes Hilfe bauen, auch auf internationaler Ebene hatte er viele Unterstützer), andere spezifischer (bei einem Waffenstillstand wäre das bisher für die Mobilisierung ausgegebene Geld zum Fenster hinausgeworfen; die bereits ausgehobenen Truppen standen bereit und waren begierig zu kämpfen). Seinem letzten Argument für den Krieg widmete Gattinara sich mit besonderer Sorgfalt:
»Vor allem aber muss Euer Majestät bestrebt sein, sich einen Ruf zu erwerben, denn bislang habt Ihr noch an keinem Staatsgeschäft Anteil gehabt, aus dem man seine positiven oder negativen Schlüsse ziehen könnte, und alle Welt hat darauf gewartet und gehofft, dass Ihr etwas vollbringt, das eines solch mächtigen Kaisers würdig sei – nun ist die Gelegenheit so günstig … Außerdem, Sire, ist dies das erste Heer, das Ihr aufgestellt habt, und diese Vorbereitungen, für die Ihr so viel Geld ausgegeben und so viele Mittel in Bewegung gebracht habt, sind schon in aller Munde. Unsere Aufgabe ist es nun, dass diese Vorbereitungen zu einem Ergebnis führen, das die Reputation Eurer Majestät weder zerstört noch beschädigt, sondern sie vielmehr stützt und mehrt.«
Der Großkanzler drängte Karl daher, seine Streitkräfte in den Niederlanden gegen ein schwaches Ziel einzusetzen, Tournai etwa, den größeren Teil seiner Kräfte jedoch in Italien zu bündeln, um den Franzosen Mailand und Genua zu entreißen. Auf diese Weise, schloss Gattinara, werde Karl »sich einen Ruf erwerben und Eure Feinde in großes Erstaunen versetzen«.9
Gattinaras Argumentation geht erkennbar auf das traditionelle Ideal des burgundischen Rittertums zurück – was sie für ihren Adressaten natürlich umso ansprechender machte, wie der listige Kanzler sich schon gedacht haben wird. Zunächst einmal ließ der Kaiser das Papier allerdings an seine führenden Ratgeber weiterleiten und bat diese um ihre Meinung, »was der Kaiser diesen Winter tun soll«. Dem detaillierten Protokoll ihrer Aussprache zufolge erklärten sich manche Minister für ein Offensivbündnis mit England, um die Chancen auf einen Sieg in den Niederlanden zu erhöhen, während andere einen Waffenstillstand oder Friedensschluss mit Frankreich befürworteten, damit Karl nach Spanien zurückkehren könne, um dort für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Am Ende traf Karl die Entscheidung dann doch allein, nachdem er sich mit Wolsey zu einer Verhandlung unter vier Augen getroffen hatte.10 In einem Geheimvertrag vom 25. August 1521 wurde festgehalten, dass Karl und Heinrich »auf ewig Freunde und Verbündete bleiben« würden und unisono handeln wollten, wenn es galt, ihre bestehenden Besitzungen zu verteidigen oder »die Wiederherstellung von Rechten zu verlangen, die andere ihnen streitig machen, und zwar ausnahmslos«. Der Vertrag sollte durch Karls Heirat mit seiner Cousine Mary besiegelt werden, Heinrichs Tochter und Erbin (und Nichte jener anderen Mary Tudor, mit der Karl zuvor schon einmal verlobt gewesen war), sobald diese zwölf Jahre alt war. Der Kaiser sollte außerdem zu einem Besuch nach England kommen, wo die beiden Monarchen ihr Bündnis öffentlich bekannt geben und letzte Hand an ihre große Strategie zur Zerstückelung Frankreichs legen würden.11
Gattinara verbrachte daraufhin drei Monate in Calais, wo Wolsey eine Art politisches Theater aufführte – mit großem Zeremoniell und demonstrativ geführten Waffenstillstandsverhandlungen mit den Franzosen, die aber nur zur Ablenkung von dem englischen Geheimbündnis mit dem Kaiser dienen sollten. Allerdings führte Gattinaras lange Abwesenheit vom kaiserlichen Hof dazu, dass sein Einfluss auf Karl erheblich geschwächt wurde. Anfänglich versicherte dieser seinem Kanzler noch: »Keiner versteht so gut wie Ihr, was wir tun könnten und tun sollten«, und bat Gattinara inständig, »uns oft zu schreiben, jeden Tag ohne Ausnahme, denn wir haben auf unsere Kosten schon eine Reihe von Poststationen eingerichtet, die Euch zur Verfügung stehen«. Doch versiegte der Strom derartiger Briefe, die sich durch eine Mischung aus Zuneigung und Unselbstständigkeit auszeichneten, schon bald.12 Der Wandel setzte offenbar ein, als – wie ein niederländischer Chronist festgehalten hat – am 2. September 1521 »Kaiser Karl seine Rüstung anlegte und zum ersten Mal sein gesamtes Heer in den Kampf gegen Frankreich führte«. Kurz darauf wurde Karl einmal sehr wütend, als sein Kanzler sich weigerte, eine seiner Urkunden gegenzuzeichnen, »in der Ihr sehr wohl unseren ausdrücklichen Befehl erkannt habt«. In herrischem Ton teilte er Gattinara mit, dass »ungeachtet der von Euch vorgebrachten Einwände wir Euch ein für alle Mal anweisen, die besagte Urkunde zu unterzeichnen und uns unverzüglich zurückzusenden, denn dies ist unser Wille«. Als im Monat darauf Wolsey eigenmächtig die Bedingungen ändern wollte, die für Karls Heirat mit der Prinzessin Mary vereinbart worden waren, erklärte der Kaiser – ohne sich zuvor mit seinem Kanzler zu beraten –, dass er den gesamten Vertrag in Fetzen reißen werde, und schrie »mit wutverzerrtem Gesicht«:
»Ich sehe schon ganz recht, wie der Kardinal [Wolsey] mit mir umspringen will: wenn er derart unverschämte Forderungen an mich stellt, die zu erfüllen mir meine Ehre und die Wahrung meines eigenen Vorteils nicht erlauben … Aber da hat er sich in seinem Mann getäuscht (Il l’a mal trouvé son homme), denn wenn die eine Seite mich verstößt, so wird eine andere mich doch mit offenen Armen empfangen. An Bräuten herrscht kein Mangel; so viel muss ich nun wirklich nicht zahlen.«13
Karls kleiner Tobsuchtsanfall sollte sich mehr als bezahlt machen: Wolsey beeilte sich, einen Vertrag zu unterzeichnen, der England, den Kaiser und den Papst zum Krieg gegen Frankreich verpflichtete. Unterdes vermochten auch die kaiserlichen Truppen in Italien und den Niederlanden einige ansehnliche Siege zu erringen, sodass Karl am Jahresende 1521 prahlen konnte: »Gott hat uns Seine Gunst gewährt, denn wir siegen ja an allen Fronten, haben Mailand und mehrere andere [italienische] Städte unter unseren Gehorsam gezwungen, Tournai eingenommen und alles zurückerobert, was in Navarra geraubt worden war.« Im Dezember 1521 starb Papst Leo und einen Monat darauf wählte das Kardinalskollegium als seinen Nachfolger einen Mann, mit dem Karl gut vertraut war: seinen vormaligen Erzieher, Adrian von Utrecht, nun Papst Hadrian VI.14
Kaiser, Papst und König – in Harmonie vereint
Der Kaiser beeilte sich, diesen unverhofften Vorteil zu seinen Gunsten auszunutzen. »Es hat dem Herrn gefallen, uns nicht nur zu dieser hohen Kaiserwürde zu erheben«, äußerte er gegenüber dem neuen Pontifex, »sondern zugleich vorherzubestimmen, dass wir die Kaiserkrone aus der Hand eines Mannes empfangen, den wir so gut kennen, der unserer eigenen Nation entstammt, der uns erzogen und von Kindheit an gelehrt hat und der eine große und aufrichtige Liebe für uns empfindet: Ich meine natürlich Eure Heiligkeit.« Etwas spitzer fügte er hinzu, Hadrian VI. möge sich »an das erinnern, was Ihr mir einst sagtet, als ich Euer Schüler war, und was sich für mich seither stets bewahrheitet hat – und damit Ihr Euch ganz sicher daran erinnert, will ich es Euch noch einmal wiederholen: dass [die Franzosen] zwar liebenswürdig und freundlich daherreden; aber am Ende wollen sie einen doch nur täuschen und betrügen«. Ohne Frage jedoch, schloss Karl, »ist Eure Heiligkeit schlau genug, dass Ihr alles vermeiden werdet, was mir Schaden oder Kummer bereiten könnte«.15
Die Wahl Hadrians schuf für seinen einstigen Schützling jedoch ein drängendes Problem: Der neue Papst konnte unmöglich weiter als sein Statthalter in Kastilien amtieren, was den Druck auf Karl erhöhte, möglichst bald nach Spanien zurückzukehren. Dies wiederum machte es erforderlich, dass er in den Niederlanden und im Reich fähige Regenten ernannte, die ihn während seiner Abwesenheit vertreten konnten. Im ersteren Fall entschied der Kaiser sich für Margarete, die sowohl fähig als auch willens war, diese Aufgabe