Der vorliegende Band präsentiert das Leben Karls V. in vier chronologisch geordneten Abschnitten. Die dazwischengeschobenen kurzen »Porträts« sollen zeigen, wie Karl von seinen Zeitgenossen in entscheidenden Momenten seines Lebenswegs wahrgenommen wurde: im Jahr 1517, als er zum ersten Mal die Niederlande verließ; dann 1532 in voller Reife; schließlich 1548 auf dem Höhepunkt seiner Macht. Die einzige Ausnahme von dieser Gliederung bildet ein thematisches Kapitel über »Die Zähmung Amerikas«. Als erster Europäer, der über nennenswerte Teile der beiden Amerikas herrschte, entwickelte Karl ein ausgeprägtes Interesse an diesem gewaltigen Doppelkontinent: Obgleich ihm vor allem daran gelegen war, die Ressourcen der Neuen Welt bestmöglich zur Finanzierung seiner Vorhaben in der Alten heranzuziehen, nahm der Kaiser zeit seines Lebens regen Anteil, wenn es etwa um die Flora und Fauna ging oder um die Bevölkerung, sei sie einheimisch oder neu zugezogen. Insbesondere seinen indigenen Untertanen wollte er geistliche Führung und materielle Sicherheit zuteilwerden lassen, was er durchaus als eine Frage seines »königlichen Gewissens« auffasste, denn »als er erfuhr, dass all die eingeborenen Bewohner von Hispaniola, Kuba und den anderen [karibischen] Inseln als Zwangsarbeiter in den Minen zu Tode gekommen waren, fasste er die Überzeugung, dass er selbst unweigerlich in der Hölle landen werde, sollte er jenes Vorgehen weiterhin zulassen«.13 Nur wenige seiner Zeitgenossen interessierten sich für Amerika, und selbst Erasmus von Rotterdam schrieb kaum ein Wort über die Neue Welt. Karl war der einzige europäische Herrscher im 16. Jahrhundert, der aus Prinzip für die Rechte der amerikanischen Ureinwohner Stellung bezog. Seine Gesetzgebung »sollte auf lange Zeit ein effektiver Hemmschuh gegen die Unterdrückung der Indios bleiben«. Nicht zuletzt deshalb sind Karls Initiativen in der Neuen Welt es wert, dass man sich eingehend mit ihnen beschäftigt.14
Auch Páez de Castro hatte vorgehabt, die Leistungen Karls V. in der Neuen Welt in seiner Biografie ausführlich zu würdigen; anderes wieder wollte er aussparen. Obwohl er nämlich der Meinung war, ein Historiker solle »die Bösen verdammen und verteufeln, auf dass ihre Taten in Zukunft nicht wiederholt werden«, aber »die Guten loben und preisen, um zu Nachahmung zu ermutigen«, unterschied er doch zwischen »denjenigen Details, die der Geschichte eigen sind«, und »jenen, die ohne Schmälerung der Wahrheit im Tintenfass des Autors verbleiben sollten«.15 Ich selbst habe im Guten wie im Schlechten kaum ein Detail über den Kaiser in meinem Tintenfass belassen. Auf der persönlichen Ebene habe ich Karl für seine stupenden Sprachkenntnisse gelobt (im Laufe der Zeit erlernte er neben seiner französischen Muttersprache auch das Italienische und das Spanische und sprach zudem ein wenig Niederländisch und Deutsch), ihn für sein großes Geschick und Können als Schütze und Reiter sowie für seinen persönlichen Mut und seine Führungsqualitäten auf dem Schlachtfeld gepriesen, wo selbst feindlicher Beschuss den Befehlshaber nicht aus der Ruhe bringen konnte. Auch wusste Karl, wie man Loyalität und Zuneigung gewinnt. Ein Diplomat erlebte 1531 mit, wie Karl zu einer Menschenmenge sprach, »so ergreifend und liebenswürdig, dass er seine Zuhörer beinahe zu Tränen rührte«, und als er geendet hatte, war sein Publikum »ganz und gar einmütig, als wenn sie seine Sklaven geworden wären«. Als der Kaiser starb, stießen die untröstlichen Mitglieder seines Gefolges »ein lautes Wehgeschrei aus, schlugen sich vor Gram ins Gesicht und mit dem Kopf gegen die Wand«. Und einige Jahre später vertraute Ferdinand, Karls Bruder und Nachfolger als Kaiser, seinem Leibarzt an, dass er »den Kaiser geliebt und verehrt habe wie einen Vater«.16
Was das Verdammen und Verteufeln betrifft, so habe ich festgehalten, dass Karl entgegen seinen eigenen Behauptungen die Plünderung Roms und die Gefangennahme Papst Clemens’ VII. im Jahr 1527 sehr wohl im Vorhinein genehmigt hatte; dass er auch über den 1541 verübten Mord an Antonio Rincón und Cesare Fregoso, zwei französischen Diplomaten, gelogen hat; und nicht zuletzt, wie er 1553 sein feierliches Versprechen gebrochen hat, seinen Sohn Philipp mit einer portugiesischen Prinzessin zu verheiraten. In manchen Fällen (so 1527 und 1541) bestritt Karl wiederholt, öffentlich und mit Nachdruck, dass er gelogen hatte; in anderen lehnte er es schlichtweg ab, sein Fehlverhalten überhaupt zu erörtern. Als etwa 1554 ein portugiesischer Gesandter vorstellig wurde, um gegen die Zurückweisung der Prinzessin zu protestieren, »teilten wir ihm mit, was notwendig war, ohne die Sache rechtfertigen oder weiter diskutieren zu wollen, denn wenn solche Dinge einmal geschehen sind, ist es am besten, man verstellt sich«.17 Auch im Privatleben konnte Karl ein wahres Ekel sein. Als er 1517 herausfand, dass seine ältere Schwester Eleonore sich in einen Höfling verliebt hatte, zwang er sie, vor einem Notar unter Eid ihrer Liebe abzuschwören und zu versprechen, ihrem Bruder künftig in allem gehorsam zu sein. Im Jahr darauf musste sie einen ihrer Onkel heiraten, der mehr als doppelt so alt war wie sie. Im Jahr 1530 ordnete Karl an, dass Tadea, eine seiner drei unehelichen Töchter, ein dauerhaftes »Zeichen an ihrem rechten Bein unterhalb des Knies« erhalten solle – bestenfalls eine Tätowierung, im schlimmsten Fall ein Brandzeichen. Drei Jahre darauf handelte er einen Heiratsvertrag zwischen seiner elfjährigen Nichte Christina von Dänemark und einem viermal so alten Mann aus, der das vertragliche Recht erhielt, die Ehe unverzüglich zu vollziehen. Die größte Schande war jedoch, was Karl seiner Mutter Johanna antat, jener Königin, die als »Johanna die Wahnsinnige« in die Geschichte eingehen sollte. Er ließ sie bis zu ihrem Tod im Jahr 1555 physisch einsperren und streng bewachen und hielt sie zudem über Jahre hinweg in einer Schein- und Wahnwelt voller »Fake Facts« gefangen (so behauptete er beispielsweise noch lange nach dem Tod ihres Vaters, des Königs Ferdinand, steif und fest, dass dieser noch am Leben sei). Und als ob das alles noch nicht genug gewesen wäre, raubte Karl seine Mutter regelrecht aus: Bei seinen Besuchen ließ er wertvolle Wandteppiche, Geschmeide, Bücher, Silberzeug und sogar liturgische Gewänder mitgehen, die er dann als Hochzeitsgeschenke für seine Schwester und seine eigene Ehefrau »recycelte«. Damit Johanna den Raub zumindest nicht bemerkte, bevor ihr Sohn erfolgreich das Weite gesucht hatte, füllte dieser die geplünderten Truhen mit Backsteinen von gleichem Gewicht.
Wir haben es also mit einer ganzen Reihe verwirrender Widersprüche zu tun, und ich habe mich nach Kräften bemüht, diese zu entwirren, indem ich zunächst untersucht habe, wie Karl zu seinen Handlungsentscheidungen gelangte, bevor ich die Frage stellte, warum er etwas tat. Diese methodologische Entscheidung hat Folgen, wie Christopher Clark im Vorwort zu seiner atemberaubenden Studie über die Ursachen des Ersten Weltkriegs, Die Schlafwandler, angemerkt hat:
»Die Fragen nach dem Warum und Wie sind logisch untrennbar miteinander verbunden, aber sie führen uns in verschiedene Richtungen. Die Frage nach dem Wie fordert uns auf, die Abfolge der Interaktionen näher zu untersuchen, die bestimmte Ereignisse bewirkten. Hingegen lädt uns die Frage nach dem Warum ein, nach fernen und nach Kategorien geordneten Ursachen zu suchen … Der ›Warum-Ansatz‹ bringt zwar eine gewisse analytische Klarheit, aber er hat auch einen verzerrenden Effekt, weil er die Illusion eines ständig wachsenden Kausaldrucks erzeugt. Die Faktoren türmen sich auf und drücken auf die Ereignisse; politische Akteure werden zu reinen ausführenden Organen der Kräfte, die sich längst etabliert haben und ihrer Kontrolle entziehen.«
Wie Clark habe auch ich deshalb versucht, »nach Möglichkeit … die Antworten auf die Warum-Frage … aus den Antworten auf Fragen nach dem Wie erwachsen [zu lassen], statt umgekehrt«, und das, obwohl ja die Frage nach dem »Wie« unweigerlich das Spannungsverhältnis zwischen individueller Handlungsmacht und Macht des Zufalls akzentuiert, während die Frage nach dem »Warum« eher Strukturen und Kontinuitäten in den Vordergrund stellt.18
Um das Verhalten Karls V. verstehen und erklären zu können, habe ich wie Páez de Castro mehrere Sprachen gelernt (wenn auch nicht Chaldäisch) und verschiedene Disziplinen studiert (wenn auch nicht Recht, Naturwissenschaften oder Mathematik); ich habe die Orte besucht, die »seine Banner erblickt haben« (und insbesondere jene, die seine archivalische Hinterlassenschaft bewahren); ich habe »die meisten früheren Historien« gelesen, »aus alten und aus neueren Zeiten, von guten wie von schlechten Schreibern«; und ich habe die überlieferten Dokumente gründlich erforscht. Zwar war es auch mir leider nicht möglich, »in zahlreichen Fragen Eure Majestät selbst zu konsultieren«, um mehr über Karls Beweggründe zu erfahren. Aber es hat doch mehr als genug Quellenmaterial überlebt, um dem Leser eine