Den folgenden wichtigen Hinweis verdanken wir María José Rodríguez-Salgado:
»Es war in der damaligen Zeit keineswegs ungewöhnlich, dass kleine Prinzen von ihren Eltern getrennt wurden, mit denen sie durch persönliche wie politische Bande verbunden waren. Wir sollten deshalb nicht den Fehler machen, in den Adels- und Fürstendynastien von damals die Emotionsstrukturen einer bürgerlichen Familie von heute zu erwarten. Aber selbst nach den damaligen Maßstäben war Karl in eine außergewöhnliche – und in eine außergewöhnlich dysfunktionale – Familie hineingeboren worden.«21
Die Briefe des Gesandten Fuensalidas an die Katholischen Könige halten diese Dysfunktionalität fest. So berichtet Fuensalidas etwa, Philipp habe, während Johanna noch in Spanien weilte, mit seinen Kindern »jede Menge Spaß gehabt« und »viel Zeit mit ihnen verbracht«, während Johanna sie nach ihrer Rückkehr in die Niederlande ignoriert habe. Zudem führte Philipps eheliche Untreue zu derart schweren Spannungen zwischen den Ehegatten, dass Fuensalida sich im Juli 1504 (zum Leidwesen aller Historiker) nicht getraute, die Einzelheiten brieflich mitzuteilen, sondern stattdessen einen Sonderboten nach Spanien schickte, der seinen Majestäten den Streit persönlich schildern sollte. Im Monat darauf besuchte Philipp Holland ohne seine Frau, und der spanische Botschafter hielt mit Bedauern fest, dass »Ihre Hoheit [Johanna] ihrem Ehemann nicht schreibt, und er ihr auch nicht«. Nach seiner Rückkehr bemühte der Erzherzog sich um eine Aussöhnung und brachte Karl mit seinen Schwestern aus Mecheln nach Brüssel, um gemeinsam mit ihnen die Mutter zu besuchen, »weil er glaubte, wenn er [die Kinder] mitbrächte, würde sie mit ihnen reden«, aber Fuensalida zufolge schien sie »an deren Gesellschaft keinen großen Gefallen zu finden«. Also versuchte Philipp es mit einer anderen Taktik: »In jener Nacht schlief der Fürst in der Kammer seiner Ehegattin« (und vermutlich empfing Johanna in jener Nacht auch noch ein weiteres Kind, ihre Tochter Maria). Schon bald verschlechterte sich das Verhältnis der Eheleute jedoch erneut. Regelmäßig schrien sie einander an, und von Zeit zu Zeit zog Johanna sich in ihre Gemächer zurück und verweigerte jegliche Nahrung. Nachdem sie mit einer Eisenstange auf die Diener eingeprügelt hatte, die sich auf Philipps Geheiß um sie kümmerten, ließ ihr Mann sie unter ständiger Bewachung in einem abgetrennten Teil des Palasts einschließen. Die Kinder konnte man ihr offenbar nicht mehr überlassen.22
Im Oktober 1504 traf ein weiterer unerwarteter Brief aus Spanien ein. Ferdinand von Aragón teilte mit, dass seine Frau Isabella im Sterben liege. Daher ließ er Philipp wissen:
»Der Prinz, mein [Schwieger-]Sohn, muss unverzüglich und im Geheimen seine Angelegenheiten dort [in den Niederlanden] in Ordnung bringen, damit alles so ist, wie es sein soll (es darf aber keiner erfahren, warum dies geschieht). Er selbst und die Kronprinzessin, meine Tochter, müssen sich zudem heimlich vorbereiten, damit sie, sobald ich einen Boten schicke, sofort aufbrechen und über das Meer unverzüglich herkommen können.«
Wieder einmal zeigte Philipp deutlichen Widerwillen gegen eine Reise nach Kastilien. Gegenüber Fuensalida klagte er, die Nachricht von der Erkrankung der Königin sei »zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt eingetroffen«, da er gerade einen Krieg gegen den Herzog Karl von Geldern begonnen hatte, einen entschiedenen und listenreichen Feind der Herzöge von Burgund, »und dies ist ein erhebliches Hindernis, sollte ich wirklich nach Spanien müssen: Obwohl Spanien von großer Wichtigkeit ist, ist dies hier doch mein wirkliches Heimatland, und ich darf es nicht verlieren.« Selbst die Nachricht von Isabellas Tod, die im Dezember 1504 eintraf, vermochte Philipps Haltung nicht zu ändern: Obgleich er unverzüglich begann, den Titel »König von Kastilien« zu führen, setzte er seinen Krieg gegen Geldern fort, bis er den größten Teil des Herzogtums besetzt hatte – nur um dann alles wieder herzugeben, wofür er Herzog Karl das Versprechen abnahm, Frieden zu halten, solange er selbst in Spanien sein werde. Im Januar 1506 endlich stachen der neue König und die neue Königin von Kastilien von Zeeland aus in See.23
Der Alleinerbe
Obwohl Karl seine spanische Großmutter nie persönlich getroffen hat, waren die aufwendigen Trauerfeierlichkeiten nach ihrem Tod, die im Januar 1505 auch in Brüssel stattfanden, wahrscheinlich der erste öffentliche Anlass, an den der Junge sich später erinnern konnte. Karl, seine Schwestern und ihr Gefolge trugen besondere schwarze Mäntel und Umhänge mit Pelzbesatz »in Trauer um die gewesene Königin von Spanien«, während ihre Eltern in der St.-Gudula-Kathedrale vor dem Altar knieten und sie alle der prächtigen »Messe für Philipp den Schönen« lauschten, die Josquin des Prés, der berühmteste Komponist der Zeit, eigens für diesen Anlass komponiert hatte. Nach dem Gottesdienst hörten sie, wie Herolde ihren Vater und ihre Mutter zu »König und Königin von Kastilien, León und Granada, und Fürst und Fürstin von Aragón und Sizilien« ausriefen, und sahen zu, wie ihre Eltern in feierlicher Prozession durch die Straßen von Brüssel zogen. Ihnen wurden Schilde und Banner vorangetragen, »auf denen alle Titel des Königs geschrieben standen, damit niemand sagen konnte, er habe keine Kenntnis erhalten«. Bald darauf trafen Karl und seine Geschwister zum ersten Mal ihren Großvater Maximilian, als dieser sich über einen Monat lang in den Niederlanden aufhielt, und zweifellos werden sie auch von den zahllosen Turnieren etwas gesehen haben, die unter Maximilians Schirmherrschaft »in der großen Halle des Palastes und im Park zu Brüssel« stattfanden. Bei einem dieser Turniere trat auch ihr Vater Philipp zusammen mit dreien seiner Höflinge an, alle vier »nach der spanischen Mode« in Gelb und Rot gekleidet.24
An den exotischen Tieren, die Philipp aus Spanien hatte herbringen lassen, dürften die Kinder ebenfalls ihre Freude gehabt haben: Vier Kamele, zwei Pelikane, ein Strauß sowie einige Perlhühner konnten sich nun zu den Löwen und Bären gesellen, die bereits in den Palastgärten von Gent und Brüssel gehalten wurden. Wie aus den erhaltenen Quellen hervorgeht, liebte es der kleine Karl, die Löwen mit einem Stock zu reizen oder Fechtkämpfe mit den Figuren auszutragen, die auf den Wandteppichen in seinen Gemächern abgebildet waren. Auch ritt er auf Steckenpferden umher, die ihm Maximilian sowie der Wittelsbacher Pfalzgraf und spätere Kurfürst Friedrich (»der Weise«) geschenkt hatten – beide Männer sollten in Karls Leben noch eine wichtige Rolle spielen. Und wenn er nicht mit Löwen kämpfte oder focht oder ritt, so kutschierte Karl seine beiden Schwestern in einem Wägelchen durch die Gegend, das von Ponys gezogen wurde; oder er spielte mit seinen Pagen »Christen gegen Türken«. Der kleine Herzog von Luxemburg kommandierte in diesen Kampfspielen stets das »Heer« der Christen – das auch stets gewann.25
Die Kinder lernten auch Lesen und Schreiben. Zunächst waren Karl, Eleonore und Isabella zusammen von Juan de Anchieta unterrichtet worden, der Johannas Hausgeistlicher und persönlicher Komponist war. Diese Konstellation war damals nicht ungewöhnlich, denn Musiker mussten in der Lage sein, ihre Partituren selbst niederzuschreiben, weshalb sie geübt waren im Umgang mit Feder und Tinte. Die Kinder erwarben ihre