Verzeichnis der Karten, Tafeln und Abbildungen
Vorwort
Braucht die Welt tatsächlich noch ein weiteres Buch über Karl V., den Herrscher über ein Reich, das in Europa das heutige Spanien, Deutschland, die Niederlande und halb Italien umfasste und darüber hinaus weite Teile Mittel- und Südamerikas? Schließlich hat schon der Kaiser selbst seine Lebenserinnerungen niedergeschrieben, sind seitdem Hunderte von Biografien in Dutzenden Sprachen über ihn erschienen und führt der Online-Katalog WorldCat allein für das aktuelle Jahrhundert mehr als 500 Bücher auf, die Karl V. im Titel tragen. Dennoch gilt auch hier: Kein Werk ist je perfekt. Der Kaiser verfasste seine triumphalistische Autobiografie im Jahr 1550 auf dem Höhepunkt seiner Macht und manche der späteren »Lebensbilder« sind erkennbar parteiisch (noch im 19. und 20. Jahrhundert haben einige Biografen die Leistungen des Kaisers vor den Karren ihrer eigenen ideologischen Ziele gespannt).
Karls moderne Biografen gehören in der Regel einem von zwei Lagern an: Die einen beklagen sich, der Gegenstand ihrer Forschungen habe nicht genügend Aufzeichnungen hinterlassen, als dass sich ein ordentliches Porträt rekonstruieren ließe – die anderen behaupten, es gebe ganz im Gegenteil viel zu viel Material. So hat etwa der Historiker Scott Dixon, der dem erstgenannten Lager zuzuzählen ist, im Jahr 2003 erklärt, Karl V. habe uns »in den Akten nur wenige Hinweise darauf hinterlassen, wie er denn nun eigentlich gewesen ist … Unter den vielen Tausend Briefen, die über sein Pult gingen, gibt es nur eine Handvoll, in denen persönliche Details zur Sprache kommen«. Im Jahr darauf äußerte sich Harald Kleinschmidt ganz ähnlich: »Es gibt eine Fülle von Dokumenten, die Karls Namen tragen. Die meisten davon hat der Kaiser jedoch nie zu Gesicht bekommen. Und unter der Minderheit von Briefen, die er eigenhändig verfasst hat, gibt es durchaus solche, die nicht Karls eigene Ansichten widerspiegeln, sondern vielmehr die seiner Ratgeber.«1
Karl Brandi, der eine große, zweibändige Biografie über den Kaiser verfasst hat, gehörte zum anderen Lager: »Wiederum auf Jahrhunderte«, schrieb Brandi im Jahr 1937, »kennen wir kaum einen Fürsten, von dem so viele und so intime eigenhändige Dokumente vorliegen.« Nur wenige Jahre darauf ging Federico Chabod sogar noch weiter, indem er kurzerhand erklärte, uns habe »kein anderer Herrscher in der Geschichte so viele eigenhändig verfasste Schriftstücke hinterlassen wie Karl V.«. Und 1966 argumentierte Fernand Braudel, früheren Historikern sei vor allem deshalb noch keine überzeugende Rekonstruktion von Karls »Denken, seinem Temperament und Charakter« gelungen, weil die überlieferten Quellen schlicht zu zahlreich seien. »Inmitten dieses Papierwusts nach der Persönlichkeit des Kaisers suchen«, resümiert er, komme der Suche nach einer Stecknadel im Heuhaufen gleich. Braudels belgischer Kollege Wim Blockmans pflichtete dem 2002 bei: »Die Fülle des Quellenmaterials ist derart gewaltig, dass man es unmöglich ganz zur Kenntnis nehmen kann.«2
Wirklich unmöglich? Sicher, der Umfang der Überlieferung ist tatsächlich gewaltig. Seinen ersten Brief unterzeichnete der spätere Kaiser im Alter von gerade einmal vier Jahren (Abb. 2), und bis zu seinem Tod sollten mehr als 100 000 weitere Dokumente in niederländischer, französischer, deutscher, italienischer, lateinischer oder spanischer Sprache folgen, die Karl mit seiner Unterschrift versah und bisweilen noch um ein Postskriptum von eigener Hand ergänzte. Allein jene Schreiben, die er komplett eigenhändig verfasste (meist auf Französisch oder Spanisch, manchmal auch auf Deutsch), füllen viele Tausend Seiten im großen Folioformat. Sein Briefausstoß liegt heute in Archiven und Bibliotheken über ganz Europa verstreut, was sich nicht zuletzt darauf zurückführen lässt, dass er so viel unterwegs war: Beinahe die Hälfte seines Lebens, mehr als 10 000 Tage, verbrachte er in den Niederlanden und beinahe ein Drittel (mehr als 6500 Tage) in Spanien; aber er verbrachte auch mehr als 3000 Tage in Deutschland und beinahe 1000 in Italien. Frankreich besuchte er viermal (für insgesamt 195 Tage), Nordafrika und England je zweimal (für 99 beziehungsweise 44 Tage). Und so gut wie überall, wo er hinkam, hinterließ er eine Spur aus Papier und Pergament. Allein während der 260 Tage, die Karl auf seinen Reisen von einem Herrschaftsgebiet ins nächste auf hoher See verbrachte, entzieht er sich der Neugier der Historiker.3
Obwohl er niemals den Atlantik überquerte, hat Karl V. auch in seinen amerikanischen Herrschaftsgebieten eine Dokumentenspur hinterlassen. Allein in den Jahren 1542 und 1543 erließ der Vizekönig von Mexiko fast 1500 Dekrete in Karls Namen, viele davon auf direkte kaiserliche Anordnung. Einige dieser Erlasse (cédulas reales) bildeten die rechtliche Grundlage für neu angelegte aztekische Siedlungen (altepetl), was sie im Laufe der Zeit als wertvolle Gründungsurkunden, von denen bis in die 1990er-Jahre hinein Abschriften erstellt wurden, geradezu ikonisch werden ließ. Und da außerdem »in der Welt des prähispanischen Mexiko die Gründung der diversen altepetl nach dem Willen und unter dem Schutz der Götter stattfand«, wurde Karl in manchen dieser Gemeinwesen schon bald wie ein Gott verehrt.4
Der Kaiser selbst strebte auf konventionelleren Wegen nach Unsterblichkeit: Er saß für Porträtgemälde Modell, gab Geschichts- und Kunstwerke in Auftrag, ließ Paläste errichten und spielte in großen Propagandaspektakeln die Rolle des glanzvollen Herrschers (besonders bei den zeremoniellen »Einzügen« in diverse Städte: Abb. 7). Massenhaft wurde das Konterfei des Kaisers auf Münzen, Medaillen und Keramik unters Volk gebracht, ja sogar auf Damespielsteinen (Abb. 30) und natürlich in Büchern und auf Flugblättern. Musiker komponierten Werke, um Karls Erfolge zu verherrlichen (den Sieg in der Schlacht bei Pavia beispielsweise oder seine Kaiserkrönung), manchmal aber auch, um Rückschläge zu verklären (etwa den Tod seiner Ehefrau). Eine international besetzte Heerschar von Dichtern, Malern, Bildhauern, Glasern, Druckern, Webern, Gold- und Waffenschmieden, Edelsteinschneidern, Geschichtsschreibern und Sekretären bemühte sich nach Kräften, dem offiziell gewünschten Image des Kaisers Geltung zu verschaffen. Karl V. folgte dem Rat aus Baldassare Castigliones einflussreichem Brevier über höfische Umgangsformen, Il Libro del Cortegiano (»Das Buch vom Hofmann«), einem seiner Lieblingsbücher überhaupt, das erschienen war, als sein Verfasser als Gesandter am Kaiserhof weilte, und das auf Karls Anweisung hin ins Spanische übersetzt wurde: Egal was der Kaiser tat – ob gehen, reiten, streiten, tanzen oder sprechen –, er behielt dabei mit einem Auge stets sein Publikum im Blick.5 Er wäre entsetzt gewesen, zu erfahren, dass im 19. Jahrhundert eine spanische Regierung sein Grab öffnen und seine mumifizierten Überreste als Touristenattraktion ausstellen würde – und dass manche Besucher Zeichnungen anfertigten, während andere die kaiserlichen Gebeine fotografierten (Abb. 39). Einem Besucher gelang es durch Bestechung eines Wärters sogar, eine kaiserliche Fingerspitze abzutrennen und als Souvenir mitzunehmen – dieser Vandalismus sollte sich später als ein Glücksfall für die Forschung herausstellen, denn die gerichtsmedizinische Untersuchung des abgetrennten Fingerglieds, das inzwischen in einem speziellen Behälter verwahrt wurde, lieferte zwei substanzielle medizinische Befunde: Karl V. hatte tatsächlich an chronischer Gicht gelitten (wie er oft beklagte); und er war vergleichsweise schnell gestorben, nämlich an einem schweren Fall von Malaria (Anhang II).
»Arma virumque cano« (»Waffentat künde ich und den Mann«): Heinrich Lutz hat diese Eröffnungsworte von Vergils Aeneis – einem Text, mit dem Karl vertraut war – in einem wichtigen Aufsatz zitiert, in dem er sich mit den zahlreichen Tücken beschäftigt, mit denen sich jeder angehende Biograf Karls V. auseinandersetzen muss. Lutz wollte damit unterstreichen, dass eine Biografie des Kaisers sich auf jene Aspekte zu konzentrieren habe, die Karls Zeit, Energie und Ressourcen maßgeblich in Anspruch nahmen. Vor allem anderen war das der Krieg und die Vorbereitung desselben – nicht nur, weil Feindseligkeiten einen so großen Teil seiner Regierungszeit ausfüllten, sondern auch, weil der Kaiser gemäß dem Eindruck seiner Zeitgenossen »am glücklichsten auf dem Feldzug und bei seinem Heer« war. Lutz argumentierte, dass andere historische Entwicklungen, ja selbst Renaissance