Für die Zeit vor dem deutschen Angriff wird von rund 2 Millionen Glaubensjuden ausgegangen, die überwiegend in den Städten lebten.8 Sie waren im kleinen und mittleren Handwerk, im Handel und, vorrangig in den größeren Städten, in den freien Berufen überrepräsentiert.9 Warschau hatte vor dem Krieg mit etwa 380 000 Personen die größte jüdische Gemeinde. In der Hauptstadt des vormals österreichischen Galizien, Lemberg, wohnten rund 100 000 Juden, in Krakau rund 70 000, in Lublin rund 40 000.10 Auf dem flachen Land des überwiegend agrarischen Polen gab es vielfach Orte mit einem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil, die sprichwörtlichen »Shtetl«, in denen das traditionelle Judentum eine Welt für sich bildete.11 Das Einkommensniveau der jüdischen Minderheit Polens, die noch unter den Folgen der Weltwirtschaftskrise litt, war nicht hoch, mit fallender Tendenz von West nach Ost. In den ländlichen Kleinstädten lebten viele Juden am Existenzminimum.12
Die operative Politik Deutschlands gegen die Juden wurde durch die Besetzung Polens mit einem Problem konfrontiert, über das sich zuvor offenbar niemand Gedanken gemacht hatte: Im Reich wurden die rund 200 000 jüdischen Staatsangehörigen ausgeplündert und zur Emigration gezwungen. Diese Politik ließ sich gegen eine zehnmal so große Bevölkerungsgruppe, zumal unter Kriegsbedingungen, nicht durchführen.13 Terror und Gewalt waren temporäre Maßnahmen, aber aus Sicht der NS-Führung keine brauchbaren Lösungen der selbst definierten »Judenfrage«.
Erst am 21. September 1939 erließ Reinhard Heydrich, der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, genauere Weisungen für die antisemitische Politik in Polen. Heydrich stand seit kurzem einer neuen Polizeibehörde vor: dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA), das die Sicherheitspolizei (Gestapo und Kriminalpolizei) und den Sicherheitsdienst der SS (SD) unter einem Dach zusammenfasste.14 Auf gleicher Hierarchieebene lag das Hauptamt Ordnungspolizei unter seinem Chef Kurt Daluege, der über die Polizei im Einzeldienst sowie die militärisch organisierte Truppenpolizei gebot.15 Beide Hauptämter – es gab noch weitere – unterstanden gemeinsam Himmler als Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei.
1.3»Koloniale« Verwaltungsstruktur
1.3.1»Volkstumspolitik« und Himmlers Vollmachten
Polen wurde 1939 dreigeteilt. Im Osten des Landes rückte gemäß den geheimen Zusatzvereinbarungen zum Hitler-Stalin-Pakt die Rote Armee ein. Galizien um Lemberg wurde der Ukrainischen SSR zugeschlagen. Der Westen Polens einschließlich des oberschlesischen Industriereviers wurde von Deutschland annektiert. In der Mitte lag das zentralpolnische »Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete«. Leiter der dortigen Zivilverwaltung war Hitlers Rechtsanwalt und nunmehriger Justizfunktionär Dr. Hans Frank. Von Frank stammte das Diktum, Recht sei, was dem Volke nütze. Er war der Realtypus nationalsozialistischen Rechtsdenkens und eignete sich daher gut für die Rolle eines Generalgouverneurs. Ein fanatischer Antisemit und treuer Diener seines Herrn, betrachtete sich Frank als eine Art Vizekönig nach kolonialem Vorbild. Seine Aufgabe sei es, mit harter Hand und einem Minimum an Personal das als minderwertig betrachtete »Fremdvolk« niederzuhalten, auszubeuten oder zu vernichten.16
Die Zweiteilung des deutschen Besatzungsgebietes hing aufs engste mit der Absicht Hitlers und Himmlers zusammen, die ehemals deutschen Gebiete Westpolens dauerhaft für das Reich zu sichern. Da die NS-Führung von dem Grundsatz ausging, dass territoriale Expansion nur durch Ansiedlung zu deutschem Blut und Boden veredelt werden könne, war vorgesehen, in den neuen Gebieten eine deutsche Bevölkerungsmehrheit zu schaffen, Polen und Juden hingegen nach Osten, ins Generalgouvernement, zu vertreiben. Aber auch auf diesem Politikfeld, das Himmler bald mit einem groß angelegten Mord- und Siedlungsprogramm, dem »Generalplan Ost«, überbaute, gab es anfangs keine langfristige Planung. Vielmehr reagierte die NS-Führung auf den dringenden Wunsch der Baltendeutschen, ihre der UdSSR zugeschlagenen Staaten zu verlassen und ins Reich ›zurückzukehren‹. Die sowjetische Führung hatte begreiflicherweise keine Einwände gegen die Abwanderung der Volksdeutschen. Sie wurde in Zusatzprotokollen zum deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28. September 1939 festgelegt.17
Himmler ergriff diese Gelegenheit beim Schopf, indem er die Rück- und Ansiedlungspolitik an sich zog. Die Baltendeutschen sollten nicht etwa in das bisherige Reichsgebiet kommen, sondern in die neu annektierten Teile Polens. In einer programmatischen Reichstagsrede bezeichnete Hitler am 6. Oktober 1939 als »wichtigste Aufgabe« deutscher Politik im Osten eine »neue Ordnung der ethnographischen Verhältnisse, das heißt, eine Umsiedlung der Nationalitäten so, daß sich am Abschluß der Entwicklung bessere Trennungslinien ergeben, als es heute der Fall ist.« Diese Aufgabe beschränke sich keineswegs auf Polen, sondern schließe die Umsiedlung der »nichthaltbaren Splitter des deutschen Volkstums« aus ganz Ost- und Südosteuropa ins Reich ein. Im Rahmen dieser Ethnopolitik sollte auch der »Versuch einer Ordnung und Regelung des jüdischen Problems« unternommen werden.18
Himmler erhielt tags darauf den Auftrag zur »Festigung deutschen Volkstums«. Die Rechtsform dieser Autorisation war bezeichnenderweise ein unveröffentlichter »Führererlass«. Solche Verstöße gegen das rechtsstaatliche Publizitätserfordernis waren bald an der Tagesordnung, besonders in Angelegenheiten, die ideologische Kerninhalte des NS-Staates betrafen. Himmler oblag die »Zurückführung der für die endgültige Heimkehr in das Reich in Betracht kommenden Reichs- und Volksdeutschen im Ausland«, die »Ausschaltung des schädigenden Einflusses von solchen volksfremden Bevölkerungsteilen, die eine Gefahr für das Reich und die deutsche Volksgemeinschaft bedeuten«, sowie die »Gestaltung neuer deutscher Siedlungsgebiete durch Umsiedlung, im besonderen durch Seßhaftmachung der aus dem Ausland heimkehrenden Reichs- und Volksdeutschen.«19 Der SS-Chef legte sich eigenmächtig den klingenden Titel eines »Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums« zu. Er war autorisiert, allen beteiligten Behörden in den vorgenannten Angelegenheiten Weisungen zu erteilen. Auf diese Weise sollte dem SS-Apparat ein maßgeblicher Einfluss auf die Besatzungspolitik in Polen und darüber hinaus gesichert werden.
Das Reichssicherheitshauptamt erhielt den Auftrag, die baltischen Neuankömmlinge mittels einer »Einwandererzentrale« zu erfassen und in den neuen Reichsgauen auf früher polnischem Staatsgebiet20 anzusiedeln, vorrangig im westpolnischen Warthegau um Posen. Diese Zentralstelle wurde in der Industriestadt Łódź – nunmehr »Litzmannstadt« genannt – eingerichtet.21
Was das Generalgouvernement anbelangt, erklärte Hitler dem Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Feldmarschall Keitel, dass in diesem Land »ein niedriger Lebensstandard« fortbestehen solle. Die wichtigste Beute seien Arbeitskräfte.22 Die Durchführung deutscher Besatzungspolitik
»bedingt einen harten Volkstumskampf, der keine gesetzlichen Bindungen gestattet. Die Methoden werden mit unseren sonstigen Prinzipien unvereinbar sein. […] Alle Ansätze einer Konsolidierung der Verhältnisse in Polen müssen beseitigt werden. Die ›polnische Wirtschaft‹ muß zur Blüte kommen. Die Führung des Gebietes muß es uns ermöglichen, auch das Reichsgebiet« – also nicht nur die neuen Reichsgaue – »von Juden und Polacken zu reinigen. Zusammenarbeit mit neuen Reichsgauen (Posen und Westpreußen) nur für Umsiedlungen. (Vgl. Auftrag Himmler).«23
Nach dem deutschen Sieg über Frankreich überreichte Himmler seinem Führer eine Denkschrift über die Behandlung der »Fremdvölkischen im Osten«, in der die Grundlagen des »Generalplans Ost« niedergelegt waren. Er wollte den »Völkerbrei« des Generalgouvernements in kleine Splitter zerlegen, die »rassisch Wertvollen« aussieben, die übrigen Ethnien hingegen irgendwie verschwinden lassen. Für die nichtjüdischen Polen empfahl Himmler eine primitive Schulbildung zwecks Erziehung zu Gehorsam, Fleiß und Bravheit. Lesen »halte ich nicht für erforderlich.«24 Hitler fand diese Herabsetzung polnischer Bürger zu Eingeborenen »sehr gut und richtig«.25 Himmler lehnte damals die »Ausrottung eines Volkes« noch als »ungermanisch« ab. Doch ist allein die Tatsache, dass ein solcher Genozid in seiner Denkschrift als Handlungsoption erwogen wurde, ein sicheres Zeichen für die Radikalisierung der Besatzungspolitik auf dem Höhepunkt