Im Generalgouvernement war der Anteil der Volksdeutschen deutlich geringer als in Westpolen, was den Aufbau des Selbstschutzes erschwerte. Treibende Kraft war ein Vertrauter Himmlers, von dem in diesem Buch noch oft die Rede sein wird: der SS- und Polizeiführer des Distrikts Lublin, Odilo Globocnik. Er ließ Ende November 1939 mit dem Aufbau der Selbstschutz-Miliz in seinem Befehlsbereich beginnen.55 Seit Januar 1940 stand sie unter dem Kommando von SS-Standartenführer Ludolf Jakob v. Alvensleben, einem Neffen von Himmlers Adjutanten.56 Zwang war nicht erforderlich, um ›Freiwillige‹ für den Selbstschutz zu gewinnen.57 Die Erwerbs- und Sozialstruktur der deutschen Minderheit erleichterte die Rekrutierung: Die Selbstschutzleute waren junge und sehr junge Männer vom Land, die meist nur über einen geringen Bildungsabschluss verfügten.58
Die Selbstschutzmänner wurden im Distrikt Lublin zu einem bis zu tausend Mann starken, aus fünf Kompanien bestehenden Bataillon zusammengefasst, das schwarz uniformiert und mit Karabinern bewaffnet war.59 Als Kompanieführer fungierten reichsdeutsche SS-Offiziere. Das Selbstschutz-Bataillon bezog sein Hauptquartier an der Lubliner Chopinstaße, unweit eines späteren Zwangsarbeitslagers für jüdische Häftlinge an der Lipowastraße.60 Selbstschutzmänner bewachten Zwangarbeitslager, beteiligten sich aber auch an Morden außerhalb. Im April 1940 brachte eine Selbstschutzkompanie unter v. Alvensleben mindestens 150 Polen bei einer dörflichen »Befriedungsaktion« um, setzte Bauernhöfe in Brand und zerstörte Wohnhäuser.61
Solche spektakulären Gewalttaten und die grassierende Korruption im Selbstschutz-Milieu führten im November dieses Jahres auch im Generalgouvernement zur Auflösung der Formation.62 Hans Frank ließ den nunmehr in »Sonderdienst« umbenannten Selbstschutz durch weitere volksdeutsche Rekruten verstärken und den Kreishauptmännern als Verwaltungspolizei unterstellen, um ihre Position gegenüber dem Polizeiapparat zu stärken.63 Der Höhere SS- und Polizeiführer ordnete jedoch am 10. Juli 1940 an, ein Sonderdienst-Ersatzbataillon im Distrikt Lublin und damit unter der Kontrolle Globocniks zu belassen.64 Personalreferent dieses Ersatzbataillons war SS-Sturmbannführer Karl Streibel, der später eine wesentliche Rolle bei der Ausbildung der Trawniki-Männer spielte.65
Der Volksdeutsche Selbstschutz war Globocniks erste Privatpolizei im Distrikt Lublin. Aus ihm rekrutierten sich einige »Endlösungs«-Funktionäre. So avancierte SS-Oberführer Friedrich Katzmann, im September 1939 »Selbstschutz«-Führer im östlichen Oberschlesien, zum SS- und Polizeiführer des Distrikts Galizien. Er war für die Ermordung einer halben Million Juden verantwortlich. Unter dem Kommando von SS-Standartenführer Josef (»Jürgen«) Stroop, 1939 »Selbstschutz«-Führer in Posen, wurde der jüdische Aufstand im Warschauer Ghetto niedergeschlagen.
Beide SS-Offiziere verfassten Abschlussberichte über ihre Tätigkeiten, mit denen sie sich bei Himmler für weitere Verwendungen empfahlen.66 Katzmann brachte es bis zum Höheren SS- und Polizeiführer von Danzig; Stroop war bei Kriegsende Höherer SS- und Polizeiführer Rhein-Westmark mit Sitz in Wiesbaden. Die Massenmörder kamen aus der Mitte der deutschen Gesellschaft und kehrten wieder in sie zurück. Katzmann starb 1957 unter falschem Namen und wurde unter seinem richtigen Namen beerdigt, nachdem eine Krankenschwester ihr Wissen um die Identität des früheren SS-Generals preisgegeben hatte. Stroop hatte weniger Glück. Er geriet in amerikanische Gefangenschaft, wurde nach Polen ausgeliefert und 1952 in Warschau hingerichtet.67
1.3.4Odilo Globocnik und die Sonderrolle des Distrikts Lublin
Das Gebiet um Lublin hatte nach den ursprünglichen Vereinbarungen mit dem temporären Bündnispartner zur Sowjetunion kommen sollen.68 Dann aber zeigte sich Stalin stärker an Litauen interessiert, so dass Deutschland sein Herrschaftsgebiet weiter nach Osten arrondieren konnte.69 Bis zum deutschen Krieg gegen die Sowjetunion bildete der Distrikt Lublin die am weitesten östlich gelegene Peripherie des Reiches. Dies war der Schauplatz einer radikalen Germanisierungspolitik und der zentrale Tatort der »Aktion Reinhardt«.
Der Exponent beider Politiken und zugleich wichtigste Faktor der Sonderrolle, die der Distrikt Lublin spielte, war der dortige SS- und Polizeiführer, SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei Odilo Globocnik. 1904 als Sohn eines österreichischen Postbeamten und einer Slowenin in Triest geboren, hatte sich Globocnik seit dem Umzug der Familie nach Klagenfurt in der illegalen österreichischen NSDAP betätigt und war schon 1934 der SS beigetreten. Nach dem »Anschluss« Österreichs avancierte Globocnik zum Gauleiter von Wien. Seine steile Parteikarriere endete abrupt 1939, weil Globocnik illegale Devisengeschäfte betrieben sowie NSDAP-Gelder und beschlagnahmtes jüdisches Vermögen veruntreut hatte. Himmler hielt an Globocnik fest und ernannte ihn mit Wirkung vom 9. November 1939 zum SS- und Polizeiführer des Distrikts Lublin.
Globocnik war ein fanatischer Antisemit und, ungeachtet seiner teils slawischen Herkunft, ein Fanatiker der »deutschen Rasse«. Neben seinen ideologischen Überzeugungen eignete sich Globocnik vor allem deshalb als Himmlers Mann im Osten, weil der vom »Reichsführer« freundschaftlich »Globus« genannte SS-General gigantomanische Pläne für die rassenpolitische Umgestaltung Polens und der Sowjetunion entwickelte. Globocnik machte Himmlers siedlungspolitische Visionen zu praktischer Politik.70
Diese Pläne verfolgte Globocnik mit krimineller Energie, in der ihn Himmler immer wieder bestärkte.71 Durch seine Immediatstellung zum SS-Chef wuchs Globocnik schnell aus seiner subalternen Position heraus und wurde zu einem der wichtigsten Vordenker und Vollstrecker nationalsozialistischer Vernichtungspolitik.72 Nur der schon erwähnte SS- und Polizeiführer des Distrikts Galizien, SS-Brigadeführer Friedrich Katzmann, erreichte eine annähernd vergleichbare Machtstellung, konnte Globocnik aber intellektuell nicht das Wasser reichen.73
Der Konflikt zwischen dem Höheren SS- und Polizeiführer Krüger und Hans Frank hatte im Distrikt Lublin seine Entsprechung im Dauerstreit zwischen Globocnik und Gouverneur Ernst Zörner, einem Alt-Parteigenossen, der sich wie Frank wiederholt und weitgehend erfolglos über Globocniks Eigenmächtigkeiten beklagte.74 Im November 1942, als die Juden des Distrikts Lublin bereits weitgehend ermordet waren, befahl Globocnik die »Umsiedlung« der Polen aus dem Kreis Zamość, den Himmler zum ersten deutschen Siedlungsgebiet im Generalgouvernement machen wollte.
Die brutale Durchführung dieser Aktion glich in mancher Hinsicht der Deportation der Juden. Da die Polen befürchteten, ihnen drohe dasselbe Schicksal, flüchteten sie in die Wälder und verstärkten die Partisanenbewegung, gegen die wiederum Globocnik blutige »Pazifierungen« durchführen ließ.75 Im Mai 1943 wurde Zörner durch Himmlers Schwager Richard Wendler ersetzt.76 Die »Sicherheits«-Lage im Distrikt Lublin war durch Globocniks Alleingänge unterdessen so katastrophal geworden, dass es Frank und Wendler im Juli 1943 durch gemeinsame Anstrengung gelang, Globocniks Ablösung zu erwirken, den nun auch Himmler nicht mehr halten konnte.77 Globocniks Karriere tat dies keinen Abbruch. Er avancierte zum Höheren SS- und Polizeiführer in seinem Geburtsort Triest. Ende Mai 1945 geriet Globocnik in seiner Kärntner Heimat in britische Kriegsgefangenschaft und nahm sich das Leben.78
2.Die Judenverfolgung im Generalgouvernement (1939 – 1941)
Die jüdische Minderheit in Zentralpolen war aus deutscher Sicht ein Problem, das nach radikalen »Lösungen« verlangte. Eine wesentliche Rolle bei dieser Radikalisierung spielte die Planung und Durchführung von Massendeportationen jüdischer Männer, Frauen und Kinder ins Generalgouvernement: aus dem »Altreich«, Österreich und dem tschechischen »Protektorat Böhmen und Mähren« einerseits, den soeben annektierten Gebieten Westpolens andererseits. In diesen neuen Reichsgauen sollten, wie schon gesehen, so schnell wie möglich Volksdeutsche aus den neuen sowjetischen Gebieten angesiedelt werden.
Himmlers Vollmachten als Umsiedlungskommissar gaben den juristischen Rahmen vor. Das Reichssicherheitshauptamt übernahm die Planung, SS und Polizei sorgten für die Durchführung. Allerdings stieß die Deportationspolitik immer wieder an Grenzen. Die Menschenströme aus Westpolen waren