Skeptischer äußert sich David Rich, der Chefhistoriker des OSI. Er hebt hervor, dass das KGB als Ermittlungsbehörde und folglich auch die Gerichte in der UdSSR mangels Dokumenten über das politische und organisatorische Umfeld der »Endlösung« gar nicht in der Lage gewesen seien, die Zuverlässigkeit von Aussagen zu überprüfen.120 Dieter Pohl bemängelt ebenfalls die fehlende Rechtsstaatlichkeit in der UdSSR, darüber hinaus die nachgewiesene Unrichtigkeit mancher Beschuldigungen und Geständnisse im Lichte späterer Überprüfungen durch das OSI sowie fehlende individuelle Schuldnachweise in einigen frühen Verfahren in der UdSSR.121
Für strafprozessuale Aussagen gilt generell, dass Beschuldigte oder Zeugen dann als glaubwürdig gelten können, wenn sie sich nicht untereinander abgesprochen haben können, ihre Aussagen übereinstimmen und zum historischen Kontext passen. Ermittlungen gegen frühere Trawniki-Männer haben zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten der UdSSR stattgefunden. Zeugenabsprachen scheiden praktisch aus. Viele ehemalige Trawniki-Männer wurden in den 1960er Jahren zudem als Zeugen, nicht als Beschuldigte vernommen. Das erhöht ihre Glaubwürdigkeit.
Hinzu kommt, dass die sowjetischen Vernehmungen, insbesondere in den 1960er Jahren, Erkenntnisse aus den deutschen Ermittlungsverfahren in hohem Maße bestätigen. Die Aussagen deutscher Beschuldigter und Zeugen aus dem Verfahren gegen Josef Oberhauser u. a. (Bełżec) und die sowjetischen Vernehmungen aus jener Zeit bilden gewissermaßen zwei Teilstücke der historischen Realität. Die »gewalttägige Welt« des alltäglichen Mordens in Bełżec lässt sich überhaupt nur auf der Grundlage sowjetischer Aussagen erschließen.122 Darin liegt ihre herausragende Bedeutung für die zeitgeschichtliche Forschung. Es besteht überwiegend Konsens, dass Vernehmungen aus sowjetischen Verfahren verwendet werden können, sofern die Regeln der Quellenkritik eingehalten und die Sachdarstellungen der Beschuldigten durch Vergleiche mit Vernehmungen in westlichen Ländern (vorrangig in der Bundesrepublik) und urkundliche Beweisstücke bestätigt werden können.
Vergleiche lassen sich auch zwischen den Vernichtungslagern anstellen. So haben sowjetische Vernehmungen über die Diensteinteilung, die Rotation des Personals und die Rolle der Unterführer übereinstimmende Erkenntnisse für Bełżec, Sobibór und Treblinka zutage gefördert, die von Befunden der westlichen historischen Forschung bestätigt werden, diese in einigen Hinsichten sogar ergänzen und vertiefen.
Im vorliegenden Fall werden die Vernehmungen in der UdSSR auch durch polnische Aussagen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit bestätigt, deren rechtsstaatliche Qualität deutlich günstiger beurteilt wird.123 So haben Zeugen im Ermittlungsverfahren gegen Zuev u. a. freimütig über den Raub des Eigentums ermordeter Juden im Vernichtungslager berichtet; polnische Zeugen auf der ›Abnehmerseite‹ verifizieren diese Aussagen, z. T. sogar mit Namensangaben derselben Personen, die sich in der UdSSR über ihre Unterschlagungen im Lager eingelassen haben.124
Das vorliegende Buch ging, wie bereits erläutert, aus zwei unveröffentlichten Sachverständigengutachten hervor. Sie wurden für den Zweck dieser Publikation gekürzt und umgeschrieben. Prinzipiell stand ich vor der Alternative einer streng systematischen Gliederung entlang der leitenden Fragestellungen nach Rekrutierungsmustern, Organisationsspezifika und Gewaltpraxen und einem chronologisch-genetischen Durchgang durch sechs Jahre deutscher Vernichtungspolitik. Die Gliederung des Buches stellt einen Kompromiss aus beiden Perspektiven dar: Unter den Leitbegriffen des Tatorts, der Tat und der Täter folgt sie systematischen Erkenntnisinteressen; innerhalb der drei Großkapitel sowie teilweise auch zwischen ihnen stehen die Soziologie der »fremdvölkischen« Organisationen sowie die Eskalationsdynamiken von Verfolgung und Massenmord im Vordergrund. Im Fazit wird der Versuch gemacht, Antworten auf die Fragestellungen des Buches zu geben, offene Probleme zu benennen und weiteren Forschungsbedarf zu identifizieren. –
Meine Forschungen über den Nationalsozialismus haben von den Anregungen und Schriften des Historikers Michael Wildt erheblich profitiert. Seit einem Jahrzehnt arbeite ich nun mit diesem herausragenden Wissenschaftler und Kollegen an der Berliner Humboldt-Universität zusammen. Über das NS-Regime und seine Schrecken aufzuklären war und ist unser gemeinsames fachliches und hochschuldidaktisches Anliegen. Dieses Buch ist Michael Wildt mit Dank gewidmet.
1.Das Generalgouvernement
1.1Der Krieg gegen Polen
Hitlers Absichten waren unmissverständlich. Als Ziele des Kriegs gegen Polen gab er den Befehlshabern der Wehrmacht die »Vernichtung« des Gegners auf den Weg: »Ziel ist die Beseitigung der lebendigen Kräfte, nicht die Erreichung einer bestimmten Linie. […] Herz verschließen gegen Mitleid. Brutales Vorgehen. 80 Mill. Menschen müssen ihr Recht bekommen. Ihre Existenz muß gesichert werden. Der Stärkere hat das Recht. Größte Härte.«1
Tatsächlich war der deutsche Feldzug gegen Polen ab 1. September 1939 eine Vorwegnahme des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion im kleineren Maßstab.2 Das Land erlitt ein bis dahin unbekanntes Ausmaß physischer Gewalt und politisch-ideologisch motivierten Terrors, der durch Sonderverbände des SS- und Polizeiapparates und oftmals reguläre Wehrmachtseinheiten ausgeübt wurde. SS und Militär arbeiteten auf der lokalen Ebene bis zum Ende der Militärverwaltung reibungslos zusammen. Es folgte Ende Oktober eine »Zivilverwaltung« durch parteitreue deutsche Funktionäre, die als »Chefs der Zivilverwaltung« mit dem Heer eingerückt waren. Sie betrachteten nicht selten Polen als ›koloniales‹ Experimentierfeld für die Okkupation und Germanisierung weiterer Gebiete Osteuropas.
Nach dem deutschen Einmarsch setzte eine massive Verfolgung der polnisch-jüdischen Bevölkerung ein. Deutsche Soldaten machten sich einen makabren Spaß daraus, jüdisch aussehende Männer zu demütigen, zu schlagen und zu sinnlosen Arbeiten heranzuziehen. Auch nach dem Ende der Kampfhandlungen blieb körperliche Gewalt gegen Juden eine alltägliche Erscheinung. Denn antisemitische Vorurteile, wonach die polnischen »Ostjuden« als arbeitsscheu, kriminell und infektiös galten, waren nicht nur in der Waffen-SS und Sicherheitspolizei, sondern auch im Parteiapparat und in der Wehrmacht weit verbreitet.3
Den Verbänden der Wehrmacht folgten Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD, die mithilfe unterstellter Verbände der Ordnungspolizei allein bis Ende 1939 etwa 7 000 Juden erschossen. Umgebracht wurden vornehmlich die vermeintlichen oder tatsächlichen Führungsschichten der jüdischen Gemeinden. Die Einsatzgruppen ermordeten aber auch – und in viel größerer Zahl – christliche polnische Männer. Das Land sollte, wie Hitler gefordert hatte, seiner geistigen und politischen Elite beraubt werden, um die Zielsetzungen deutscher Besatzungspolitik ungehindert durchsetzen zu können.4
Das Vorgehen der Einsatzgruppen war mit dem Militär nicht hinreichend abgestimmt. SS- und Polizeiverbände wie das Einsatzkommando Hasselberg im Lubliner Gebiet und die Einsatzgruppe v. Woyrsch, die im Südosten Polens operierte, machten sich so flagranter Verstöße gegen das Kriegsvölkerrecht schuldig, dass einzelne hohe Wehrmachtsoffiziere wie Generaloberst Johannes Blaskowitz gegen Massenmorde, Plünderungen und Vergewaltigungen protestierten:
»Die Einstellung der Truppe zur SS und Polizei schwankt zwischen Abscheu und Hass. Jeder Soldat fühlt sich angewidert und abgestoßen durch diese Verbrechen, die in Polen von Angehörigen des Reiches und Vertretern der Staatsgewalt begangen werden.«5
Blaskowitz wurde auf Befehl Hitlers abgelöst. Er amnestierte darüber hinaus bereits verurteilte SS-Gewalttäter.6 Insgesamt beschleunigten die Proteste der Heeresführung nur das Ende der Militärverwaltung.
1.2Bevölkerungs- und Wirtschaftsstruktur
Die Bevölkerung des Generalgouvernements war überwiegend polnisch, gefolgt von Juden, Ukrainern und kleineren Ethnien. Zu ihnen zählten die Nachkommen ehemaliger